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Der rote Prophet

Der rote Prophet

Titel: Der rote Prophet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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Blätter wurden weicher und nachgiebiger, als er zwischen den Bäumen dahinlief; und nun endlich begann er wirklich zu jubilieren, schrie er, sang er, war es ihm gleichgültig, wer ihn hörte. Die Tiere liefen nicht mehr vor ihm davon, wie sie es getan hatten; nun kamen sie herbei, um sein Lied zu vernehmen; Vögel erwachten, um mit ihm zusammen zu singen; ein Reh sprang aus dem Wald herbei und lief neben ihm über die Weide, und er ließ dabei die Hand auf seiner Flanke ruhen.
    Er lief, bis ihm das Atmen schwer wurde, und die ganze Zeit traf er auf keinen Feind, spürte er keinen Schmerz. Er war wieder ganz geworden, so, wie es wichtig war. Am Ufer des Wobbish River blieb er stehen, gegenüber der Mündung des Tippy-Canoe, er keuchte und lachte.
    Erst dann merkte er, daß das Blut noch immer von seiner Hand troff, aus der Wunde, die er sich zugefügt hatte, um dem weißen Jungen Schmerz zu senden. Seine Hosen und das Hemd waren voll von Blut. Kleider der Weißen! Die habe ich nie gebraucht. Er streifte sie ab und warf sie in den Fluß.
    Da geschah etwas Merkwürdiges. Die Kleider bewegten sich nicht. Sie legten sich auf die Wasseroberfläche, ohne zu versinken oder mit der Strömung zu treiben.
    Wie konnte so etwas sein? War der Traum denn noch nicht vorbei? War er denn noch immer nicht erwacht?
    Lolla-Wossiky schloß sein Auge. Sofort erblickte er etwas Entsetzliches und schrie auf vor Furcht. Sobald er sein Auge geschlossen hatte, sah er das schwarze Geräusch wieder, eine große, harte, gefrorene Schicht. Es war der Fluß. Es war das Wasser. Es war der Tod.
    Er öffnete das Auge, und da war es wieder Wasser, doch noch immer bewegte sich seine Kleidung nicht.
    Er schloß das Auge und sah, daß dort, bei den Kleidern, Licht auf der Oberfläche der Schwärze funkelte. Es sammelte sich, es schimmerte, es blendete. Es war sein eigenes Blut, was da leuchtete.
    Nun konnte er erkennen, daß das schwarze Geräusch kein Ding war. Es war Nichts. Leere. Die Stelle, wo das Land endete, und die Leere begann; es war das Ende der Welt. Doch dort, wo sein eigenes Blut funkelte, war es wie eine Brücke über das Nichts. Lolla-Wossiky kniete nieder, das Auge immer noch geschlossen, und berührte mit seiner zerschnittenen und immer noch blutenden Hand das Wasser.
    Es war warm und feucht. Er verschmierte sein Blut auf der Oberfläche, und es wurde eine Plattform daraus. Er kroch auf die Plattform hinaus. Sie war glatt und hart wie Eis, aber auch warm und einladend.
    Er öffnete das Auge. Wieder war es ein Fluß, nur daß er unter ihm fest war. Überall, wo sein Blut damit in Berührung gekommen war, war das Wasser hart und glatt.
    Er kroch hinaus zu der Kleidung, schob sie vor sich hin. Bis zur Mitte des Flusses kroch er weiter und über sie hinaus, hinterließ eine dünne, glühende Blutbrücke, die zur anderen Seite führte.
    Was er hier tat, war unmöglich. Der Junge hatte noch sehr viel mehr getan, als ihn zu heilen. Er hatte die Ordnung der Dinge verändert. Es war angsteinflößend und wunderbar zugleich. Lolla-Wossiky sah in das Wasser zwischen seinen Händen hinab. Sein einäugiges Spiegelbild blickte zu ihm auf. Dann schloß er das Auge, und eine völlig neue Vision überkam ihn.
    Er sah sich auf einer Lichtung stehen, wie er zu Hunderten von roten Männern sprach, zu Tausenden, zu Roten aller Stämme. Er sah sie eine Stadt bauen, tausend, fünftausend, zehntausend Rote, alle kräftig und gesund, frei vom Branntwein des weißen Mannes, vom Haß der Weißen. In seiner Vision nannten sie ihn den Propheten, doch er beharrte darauf, daß er nichts dergleichen sei. Er war nur das Tor, das geöffnete Tor. Tretet hindurch, sagte er, und seid stark, ein Volk, ein Land.
    Das Tor. Tenskwa-Tawa. In seiner Vision erschien das Gesicht seiner Mutter, die dieses Wort zu ihm sagte. Tenskwa-Tawa. Das ist nun dein Name, denn der Träumer ist erwacht.
    In dieser Nacht sah er noch sehr viel mehr, wie er in das feste Wasser des Wobbish River hinabstarrte, sah so viel, daß er es niemals alles würde erzählen können; er schaute die ganze Geschichte des Landes, das Leben eines jeden Mannes und einer jeden Frau, ob weiß oder rot oder schwarz, das Leben all jener, die jemals den Fuß darauf gesetzt hatten. Er sah den Anfang, wie er auch das Ende schaute. Große Krieger und kleine Grausamkeiten, all die Menschenmorde, all die Sünden; aber auch all die Güte, all die Schönheit.
    Und über alledem eine Vision der Kristallstadt – Crystal City.

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