Der rote Prophet
hatte, weder in nüchternem noch im betrunkenen Zustand hatte wahrnehmen können.
Lolla-Wossiky drehte und drehte sich um die eigene Achse, ohne etwas anderes zu sehen als die Wände der Kirche. Bis er das Auge schloß. Dann erblickte er den Wirbelwind; ja, weißes Licht, das sich immer und immer wieder um ihn drehte, während das schwarze Geräusch zurückwich. Nun war er am Ende seines eigenen Traums angelangt. Und er konnte mit geschlossenem Auge sehen, konnte deutlich sehen. Vor ihm lag ein leuchtender Pfad, ein Weg, so hell wie der Mittagshimmel, blendend wie Weidenschnee an einem klaren Tag. Ohne das Auge zu öffnen, wußte er bereits, wohin der Weg fuhren würde. Den Hügel hinauf, auf der anderen Seite hinunter, einen noch höheren Berg empor, einem Haus unweit eines Stromes entgegen, einem Haus, wo ein weißer Junge lebte, der für Lolla-Wossiky nur sichtbar war, wenn er sein Auge geschlossen hielt.
Nun, da das schwarze Geräusch ein wenig zurückgewichen war, konnte er sich wieder lautlos bewegen. Er ging um das Haus herum, immer und immer wieder. Niemand hörte ihn. Im Inneren des Hauses: Gelächter, Rufe, Geschrei. Glückliche Kinder, zankende Kinder. Strenge Elternstimmen. Bis auf die andere Sprache hätte es sein eigenes Dorf sein können. Seine eigenen Schwestern und Brüder in jenen glücklichen Tagen, bevor der weiße Mörder Harrison seinen Vater getötet hatte.
Der weiße Vater, Alvin Miller, trat hinaus, um zum Abort zu gehen. Kurz danach kam der Junge selbst, lief, als würde er sich fürchten. Er schrie auf die Tür des Aborts ein. Mit offenem Auge sah Lolla-Wossiky nur, daß dort irgend jemand stand und schrie. Mit geschlossenem Auge jedoch erblickte er den Jungen, und vernahm seine Stimme wie Vogelgesang über einem Fluß, alles Musik, auch wenn das, was er sagte, albern war, töricht, eben das Gerede eines Kindes.
»Wenn du nicht sofort rauskommst, dann mache ich hier vor die Tür, dann trittst du hinein, wenn du rauskommst!«
Und dann Schweigen, während der Junge immer unruhiger wurde, sich mit der Faust plötzlich gegen den Kopf schlug, als wollte er sagen: Dumm, dumm, dumm. Irgend etwas veränderte sich in Al Juniors Miene; Lolla-Wossiky öffnete das Auge und sah, daß der Vater herausgekommen war und etwas sagte.
Der Junge antwortete ihm beschämt. Der Vater berichtigte ihn. Lolla-Wossiky schloß das Auge.
»Jawohl, Herr Papa.«
Wieder mußte der Vater etwas sagen, doch mit geschlossenem Auge konnte Lolla-Wossiky ihn nicht hören.
»Tut mir leid, Papa.«
Dann mußte der Vater fortgegangen sein, denn nun betrat der kleine Alvin das Örtchen. Brummend, doch so leise, daß keiner ihn hören konnte. Außer Lolla-Wossiky. »Na ja, wenn du einfach noch ein zweites Örtchen bauen würdest, hätte ich keine Schwierigkeiten.«
Lolla-Wossiky lachte. Törichter Junge, törichter Vater, wie alle Jungen, wie alle Väter.
Und wieder sah er das weiße Licht sich sammeln, im Inneren des Hauses, dem Jungen die Treppe hinauffolgend. Für Lolla-Wossiky gab es keine Wände und Mauern. Er sah, daß der Junge sich sehr vorsichtig verhielt, als hielte er Ausschau nach irgendeinem Feind, als rechnete er mit einem Angriff. Als er ins Schlafzimmer kam, huschte er hinein, schloß schnell die Tür hinter sich. Lolla-Wossiky sah ihn so deutlich, daß er beinahe meinte, seine Gedanken zu hören; und dann, weil er es dachte und weil beinahe schon die Zeit seines Erwachens war, hörte er die Gedanken des Jungen tatsächlich, oder zumindest spürte er seine Gefühle. Er fürchtete sich vor seinen Schwestern. Ein törichter Streit, der mit Neckereien angefangen hatte, aber inzwischen bösartig geworden war – er fürchtete sich vor ihrer Rache.
Und die Rache kam, als er seine Kleidung auszog und sich das Nachthemd über den Kopf streifte. Stechen! Insekten, dachte der Junge. Spinnen, Skorpione, winzige Schlangen! Er riß das Nachthemd ab, schlug auf seine eigene Haut ein, schrie auf vor Schmerz und Furcht.
Doch Lolla-Wossiky spürte das Land gut genug, um zu wissen, daß es dort keine Insekten gab. Nicht an seinem Körper, nicht im Nachthemd. Obwohl es viele Lebewesen im Zimmer gab. Küchenschaben, die zu Hunderten in den Wänden und unter dem Boden lebten.
Doch nicht in allen Wänden und Böden. Nur in Alvin Juniors Raum. Alle versammelten sich dort.
Aus Feindschaft? Doch Küchenschaben waren zu klein für den Haß. Diese kleinen Kreaturen kannten nur drei Gefühle: Angst, Hunger und das dritte Gespür,
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