Der rote Prophet
Schnell begann es, zu Boden zu tropfen.
Der Schmerz kam plötzlich, schon im nächsten Augenblick. Lolla-Wossiky wußte sofort, wie er aus dem Schmerz ein Bild formen und dieses in den Geist des Jungen einpflanzen konnte. Das Bild vom Zimmer seiner Schwestern, aus der Perspektive einer kleinen, schwachen Kreatur. Einer Kreatur, die in das Zimmer hineinstürzte, hungrig, gierig und gewiß, daß es hier Nahrung gab; auf dem weichen Körper lag die Verheißung, er mußte erklommen, die Nahrung mußte aufgespürt werden. Doch große Hände klatschten wieder und streiften sie, und die kleine Kreatur wurde zu Boden geschleudert. Und plötzlich flog ein Schatten heran und dann der Schmerz des Todes.
Immer wieder, jedes kleine Leben, erst hungernd und vertrauensvoll, dann verraten, zerquetscht, zertrampelt.
Viele überlebten, aber die es taten, versteckten sich ängstlich, huschten davon, flohen. Flohen aus dem Raum der Schwestern, dem Raum des Todes, doch nicht zurück an den alten Ort, nicht zurück an den Ort der Lügen. Diese Vision hatte keine Worte. Es gab keine Worte im Hirn einer Schabe. Aber die Angst vor dem Tod an diesem Ort war nicht so stark wie eine andere Form der Angst, die Angst vor einer verrückt gewordenen Welt, wo alles passieren konnte und wo man niemandem mehr trauen durfte. Ein grauenhafter Ort.
Lolla-Wossiky beendete die Vision. Der Junge hielt die Hände auf die Augen gepreßt, verzweifelt schluchzend. Noch nie hatte Lolla-Wossiky jemanden gesehen, den seine eigene Reue so sehr peinigte. Die Vision, die Lolla-Wossiky ihm gegeben hatte, war stärker als jeder Traum gewesen, den ein Mensch hätte träumen können. Ich bin ein schreckliches Traumtier, dachte Lolla-Wossiky. Er wird sich wünschen, daß ich ihn nicht aufgeweckt hätte. Aus Furcht vor seiner eigenen Kraft öffnete Lolla-Wossiky sein Auge.
Sofort verschwand der Junge, und Lolla-Wossiky wußte, daß der Junge nun glauben würde, daß Lolla-Wossiky selbst auch verschwunden war. Was nun? dachte er. Bin ich etwa hier, um diesen Jungen in den Wahnsinn zu treiben? Um ihm einen Schrecken einzujagen, der so schlimm ist, wie es das schwarze Geräusch für mich war?
Wieder schickte er dem Jungen Licht. Ruhe, Ruhe.
Das Weinen des Jungen wurde zu einem Wimmern, und er blickte erneut Lolla-Wossiky an, der noch immer von blendendem Licht strahlte.
Lolla-Wossiky wußte nicht, was er tun sollte. Während er schwieg und verunsichert war, fing Alvin an zu sprechen, zu flehen. »Es tut mir leid, ich werde es nie wieder tun. Ich ...«
Er plapperte weiter und weiter. Lolla-Wossiky schickte ihm noch mehr Licht, um ihm beim Sehen zu helfen. Es erreichte den Jungen fast wie eine Frage. Was wirst du nie wieder tun?
Alvin konnte es nicht beantworten, er wußte es nicht. Was hatte er eigentlich getan? War es, daß er die Schaben in den Tod geschickt hatte?
Er blickte den leuchtenden Mann an und schaute das Bild eines roten Mannes, der vor einem Reh kniete, es herbeirief, um zu sterben; das Reh näherte sich, zitternd und mit geweiteten Augen, furchtsam; der Rote ließ einen Pfeil hervorschnellen, und im nächsten Moment traf er auch schon die Flanke des Rehs. Die Beine des Tieres bebten. Es war nicht das Sterben oder das Töten, das Alvins Sünde ausmachte, denn Sterben und Töten gehörten zum Leben.
War es die Macht, die er hatte? Die Fähigkeiten, die er besaß, dafür zu sorgen, daß die Dinge genau dort hingingen, wo er sie hinhaben wollte, daß sie genau an der richtigen Stelle zerbrachen oder sich so fest zusammenfügten, daß sie auf alle Zeiten zusammenblieben, ohne Leim oder Nagel? Die Fertigkeit, die er besaß, die Dinge sich so anordnen zu lassen, wie es sich gehörte? War es das?
Wieder schaute er zum leuchtenden Mann hinüber, und wieder hatte er eine Vision. Diesmal sah er sich selbst, wie er gegen einen Stein drückte, der wie Butter unter seinen Händen zerschmolz und genau die Form annahm, die er haben wollte, glatt und rund, eine vollkommene Kugel, die immer größer und größer wurde, bis sie zu einer ganzen Welt geworden war, mit Bäumen und Tieren, die rannten und sprangen, flogen und schwammen, krabbelten und gruben. Nein, er verfügte über keine schreckliche Macht, es war vielmehr eine wunderbare Macht wenn er nur lernte, sie zu nutzen.
Nun, wenn es nicht das Sterben und seine Macht waren, was habe ich denn dann falsch gemacht?
Diesmal zeigte ihm der leuchtende Mann überhaupt nichts. Diesmal mußte er selbst nachdenken. Und
Weitere Kostenlose Bücher