Der rote Prophet
was völlig unglaublich erschien: Sogar jetzt noch, da Carthage City schon vier Monate lang keinen Branntwein mehr bekommen hatte, war Lolla-Wossiky völlig betrunken. Er sah Hooch entgegen, stemmte sich auf einen Ellenbogen, winkte ihm zur Begrüßung mit einem Arm zu und ließ sich dann ohne das leiseste Geräusch wieder zu Boden sinken. Das Taschentuch, das er normalerweise über sein fehlendes Auge gebunden hatte, war verrutscht, so daß die leere Augenhöhle mit den eingesaugten Augenlidern klar zu sehen war. Hooch hatte das Gefühl, daß dieses leere Auge ihn anstarrte.
Dieses Gefühl gefiel ihm nicht. Lolla-Wossiky gefiel ihm nicht. Harrison war ein Mann, der es liebte, solche heruntergekommenen Kreaturen um sich zu scharen – wahrscheinlich fühlte er sich dann im Vergleich zu ihnen richtig gut, überlegte Hooch –, aber Hooch mochte solche erbärmliche Exemplare der Menschheit nicht mitansehen. Warum war Lolla-Wossiky noch nicht gestorben?
Als er gerade Harrisons Tür öffnen wollte, fuhr Hoochs Blick von dem einäugigen, betrunkenen Roten zu einem anderen Mann hinüber. Merkwürdig. Für einen Augenblick dachte er, schon wieder Lolla-Wossiky zu sehen, so sehr glichen sie sich. Nur, daß es ein Lolla-Wossiky mit zwei gesunden Augen war und alles andere als ein Trinker. Dieser Rote mußte vom Skalp bis zur Sohle mindestens sechs Fuß messen, wie er da gegen die Wand lehnte, den Kopf kahlrasiert bis auf die Skalplocke. Er blickte geradeaus, wie ein Soldat in Habtachtstellung, und er sah Hooch nicht einmal flüchtig an. Seine Augen starrten direkt ins Leere.
Und doch wußte Hooch, dieser Rote sah alles, auch wenn er sich auf nichts konzentrierte.
Doch sagte er nichts über diesen Roten. Es wäre nicht ratsam gewesen, Harrison erfahren zu lassen, wie sehr ihn dieser eine stolze Shaw-Nee beunruhigte, ja wütend machte. Denn dort hinter einem großen alten Tisch wie Gott auf seinem Thron saß Gouverneur Bill. Und Hooch begriff, daß sich hier einiges geändert hatte. Nicht nur das Fort war gewachsen, Bill Harrisons Eitelkeit auch. Und wenn Hooch tatsächlich den Gewinn machen wollte, mit dem er auf dieser Reise rechnete, so würde er dafür sorgen müssen, daß Gouverneur Bill um ein oder zwei Stufen zurückgestutzt wurde, damit sie als Gleichberechtigte und nicht als Händler und Gouverneur miteinander reden konnten.
»Habe Eure Kanonen bemerkt«, sagte Hooch, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, sein Gegenüber zu begrüßen. »Wozu die ganze Artillerie – gegen die Franzosen aus Detroit, die Spanier aus Florida oder gegen die Roten?«
»Egal, wer die Skalps kauft, so oder so sind immer Rote mit im Spiel«, erwiderte Harrison. »Und nun setzt Euch und ruht Euch aus, Hooch. Wenn die Tür geschlossen ist, gibt es zwischen uns keine Formalitäten mehr.« Ja, ganz der Gouverneur Bill, der seine Spielchen liebte. Den Leuten das Gefühl geben, man würde ihnen schon einen Gefallen tun, wenn sie nur in der eigenen Gegenwart Platz nehmen durften; ihnen so lange schmeicheln, bis sie sich wie richtige Kumpel vorkamen, bevor man schließlich ihre Taschen plünderte. Na, dachte Hooch, da kenne ich aber auch ein paar Spiele, und wir werden schon sehen, wer von uns am Ende Sieger bleibt.
Hooch nahm Platz und legte die Füße auf Gouverneur Bills Schreibtisch. Er holte einen Brocken Tabak hervor und stopfte ihn sich hinter die Zähne. Er sah, wie Bill zusammenzuckte. Das war ein sicheres Zeichen dafür, daß seine Frau ihm einige besondere Angewohnheiten abgewöhnt hatte. »Auch ein Stück?« fragte Hooch.
Es dauerte fast eine Minute, bevor Harrison zugab, daß er nicht abgeneigt war. »Habe dem Zeug weitgehend abgeschworen«, bemerkte er wehmütig.
Harrison trauerte also noch seinem Junggesellenleben nach. Nun, das war für Hooch gute Nachricht. So hatte er einen Hebelpunkt gefunden, mit dem er den Gouverneur aus dem Gleichgewicht bringen konnte. »Habe gehört, daß Ihr Euch einen weißen Bettwärmer aus Manhattan geholt habt«, bemerkte Hooch.
Es funktionierte: Harrison errötete. »Ich habe eine Lady aus New Amsterdam geheiratet«, antwortete er. Seine Stimme war ruhig und kalt. Was Hooch jedoch nicht das geringste ausmachte – genau das hatte er ja gewollt.
»Eine Ehefrau!« sagte er. »Na, wenn das keine Neuigkeit ist! Ich bitte um Entschuldigung, Gouverneur, ich hatte etwas anderes gehört. Ihr müßt mir verzeihen. All diese Jahre habt Ihr doch das Andenken Eurer ersten Frau heiliggehalten, und wenn
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