Der Rote Sarg
unterhalb der Augen bräunlich grün verfärbt, außerdem litt sie seitdem an Schlaflosigkeit, womit sie wieder am Ausgangspunkt angelangt war. »Ich leide unter Alpträumen«, sagte sie, »und Sie, Pekkala, kommen darin vor.«
»Das, Exzellenz, bezweifle ich nicht«, erwiderte er.
Kurz stand der Zarin der Mund offen, während sie die Bedeutung seiner Worte zu erfassen suchte. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt, ging in ihr Zimmer zurück und schloss die Tür.
S ie verlangen Beweise, dass der T-34 verraten wurde?«, fragte Stalin. »Gut, Pekkala. Ich werde Ihnen die Beweise liefern. Vor zwei Tagen hat ein deutscher Agent versucht, Entwicklungsunterlagen zum Konstantin-Projekt zu kaufen.«
»Zu kaufen?«, fragte Pekkala. »Von wem?«
»Der Weißen Gilde«, erwiderte Stalin.
»Der Gilde!« Den Namen hatte Pekkala schon lange nicht mehr gehört.
Vor einigen Jahren hatte Stalin die Bildung einer Geheimorganisation in Auftrag gegeben, die Weiße Gilde genannt wurde. Sie bestand aus ehemaligen zarentreuen Soldaten, die die Kommunisten von der Macht vertreiben wollten. Der Gedanke, Stalin könnte eine Vereinigung ins Leben rufen, deren einziger Zweck es war, ihn zu stürzen, war so unvorstellbar, dass keines der Mitglieder auch nur im Traum auf die Idee gekommen wäre, das gesamte Unterfangen könnte von Anfang an vom NKWD-Büro für besondere Operationen kontrolliert worden sein. Diesen Trick hatte Stalin von der Ochrana gelernt; wollte man den Feind aus seinem Versteck locken, musste man ihn nur davon überzeugen, dass er an einer Aktion gegen den Staat beteiligt war, und ihn dann, bevor die Gewalttat verübt werden konnte, dingfest machen. Seitdem es die Weiße Gilde gab, waren Hunderte antikommunistischer Agenten in der Lubjanka an die Wand gestellt und hingerichtet worden. »Aber wenn alles über sie läuft, haben Sie doch nichts zu befürchten. Sie halten die Fäden in der Hand. Die Gilde ist ja schließlich Ihre Erfindung.«
»Sie vergessen eines, Pekkala.« Stalin kratzte sich am Hals, wobei seine Fingernägel über die Pockennarben schabten. »Mir bereitet es Sorgen, dass sie überhaupt von der Existenz des T-34 wissen. Geheimnisse sind nur dann sicher, wenn niemand weiß, dass es diese Geheimnisse überhaupt gibt.«
»Was ist mit dem deutschen Agenten geschehen?«, fragte Pekkala. »Kann ich ihn befragen?«
»Könnten Sie«, erwiderte Stalin. »Aber ich glaube, die Unterhaltung dürfte sehr einseitig werden.«
»Gut«, sagte Pekkala, »zumindest konnte also verhindert werden, dass dem Feind die Informationen in die Hände gefallen sind.«
»Ein Erfolg von nur vorübergehender Natur. Sie werden wiederkommen.«
»Wenn sie wiederkommen«, sagte Pekkala, »sollten wir vielleicht dafür sorgen, dass sie auch finden, wonach sie zu suchen meinen.«
»Das ist bereits in die Wege geleitet«, sagte Stalin und steckte sich eine neue Zigarette zwischen die Lippen. »Und jetzt gehen Sie, befragen Sie erneut Nagorski.«
Im Wald von Rusalka an der polnisch-russischen Grenze schlängelte sich ein unbefestigter Weg durch die Kiefern. Es hatte geregnet, mittlerweile aber bahnten sich die ersten Sonnenstrahlen wieder ihren Weg durch die dunstige Luft. Zu beiden Seiten der Straße standen die hohen Kiefern so dicht, dass dort kaum Tageslicht durchdrang. Einzig Pilze wuchsen auf dem mit braunen Kiefernnadeln bedeckten Boden – rote, weißgetüpfelte Fliegenpilze sowie glänzend weiße Knollenblätterpilze, die so giftig waren, dass schon ein kleiner Bissen davon tödlich war.
Pferdehufe schreckten einen Fasan aus seinem Versteck auf. Mit einem Krächzen erhob er sich in die Lüfte und verschwand im Nebel.
In einer Biegung des Wegs erschien ein Reiter auf seinem Pferd. Er trug eine Uniform, der Stoff war so graubraun wie das Winterfell von Rehen. Die Stiefel waren frisch gewienert, auf den Messingknöpfen der Uniform prangte der polnische Adler. In der linken Hand trug er eine Lanze, deren kurze Klinge hell im Sonnenlicht schimmerte. Sowohl Pferd als auch Reiter wirkten wie Geister aus einer längst vergangenen Zeit. Doch dann erschienen weitere Reiter – ein Trupp Kavallerie –, die Gewehre über die Schulter geschlungen hatten. Sie bewegten sich in strenger Formation, zwei Reihen zu je sieben Reitern.
Die Männer gehörten zur Kavalleriebrigade Pomorska und befanden sich auf einer Routinepatrouille. Ihr Weg überquerte mehrmals die polnisch-russische Grenze. Es war der einzige Weg hier, der nahezu
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