Der Rote Sarg
beugte sich näher zum blubbernden Eintopf. »Man kann Heu essen?«
»Dient nur zum Würzen.« Kirow griff zu einer abgestoßenen, rot-weiß emaillierten Kelle und füllte Pekkalas Schale.
Pekkala setzte sich auf den knarrenden Holzstuhl hinter seinem Schreibtisch und beäugte misstrauisch das Essen. »Heu«, wiederholte er und schnupperte am Dunst, der vom Eintopf aufstieg.
Kirow setzte sich auf das Fensterbrett zwischen seine Topfpflanzen nieder und ließ die langen Beine baumeln.
Pekkala hatte bereits eine weitere Frage auf den Lippen. Mehrere Fragen, um genau zu sein. Was für ein Heu war es? Woher stammte es? Wer hatte sich das Rezept ausgedacht? Was bedeutete Buschenina? Aber Kirow ließ ihn gar nicht zu Wort kommen.
»Nicht reden, Inspektor. Essen!«
Gehorsam löffelte Pekkala seine Buschenina. Eine salzige Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Der Geschmack der Nelken brachte wie ein elektrischer Funken sein Gehirn zum Knistern. Und dann erreichte ihn der Duft des Heus; eine mürbe Erdigkeit, die aus den dunklen Tiefen seines Geistes Erinnerungen an die Kindheit weckte.
Wohlig schweigend aßen sie.
Eine Minute darauf, als Pekkalas Löffel über den Boden der Schale kratzte, räusperte sich Kirow laut. »Sie sind schon fertig?«
»Ja«, antwortete Pekkala. »Gibt es noch mehr davon?«
»Es gibt noch, aber darum geht es nicht! Wie können Sie nur so schnell essen?«
Pekkala zuckte mit den Schultern. »Das mache ich eben so.«
»Was ich meine«, erklärte Kirow, »Sie sollten lernen, Ihr Essen zu genießen. Essen ist wie träumen, Inspektor.«
Pekkala hielt ihm seine Schale hin. »Könnte ich noch was haben, während Sie es mir erklären?«
Seufzend nahm Kirow die Schale entgegen, füllte nach und reichte sie Pekkala. »Es gibt drei Arten von Träumen«, begann er. »Die erste ist nur ein Gekritzel im Kopf, sie hat nichts zu bedeuten. Ihr Gehirn entspannt sich wie die Feder in einer Uhr. Bei der zweiten Art ist es schon etwas anderes. Ihr Unbewusstes will Ihnen etwas sagen, aber Sie müssen es erst interpretieren, um herauszufinden, was es zu bedeuten hat.«
»Und die dritte?«, fragte Pekkala mit vollem Mund.
»Die dritte Art«, sagte Kirow, »ist das, was die Mystiker Baraka nennen. Ein Wachtraum, eine Vision, in der man eine Ahnung von der Gesamtheit des Universums erhält.«
»Wie der Apostel Paulus auf dem Weg nach Damaskus«, warf Pekkala ein.
»Was?«
»Vergessen Sie’s.« Pekkala machte eine wegwerfende Bewegung mit dem Löffel. »Erzählen Sie weiter. Was hat das alles mit dem Essen zu tun?«
»Es gibt Essen, mit dem man einfach seinen Magen füllt.«
»Wie Fleischkonserven«, schlug Pekkala vor.
Kirow schauderte. »Ja, wie diese Dosen, die Sie immer verdrücken. Dann gibt es die Mahlzeiten in einem Lokal, in dem man zu Mittag isst. Die sind kaum besser, nur muss man nachher nicht abspülen.«
»Und dann?«
»Dann gibt es Speisen, die das Essen und Trinken zur Kunst erheben.«
Pekkala, der den Löffel kein einziges Mal abgesetzt hatte, ließ ihn jetzt in die leere Schale fallen.
Kirow schüttelte den Kopf, als er es hörte. »Sie haben nicht die geringste Ahnung, wovon ich rede, nicht wahr, Inspektor?«
»Nein«, stimmte Pekkala zu. »Aber ich hatte ein paar hervorragende Träume. Ich weiß nicht, warum Sie nicht Koch geworden sind.«
»Ich koche, weil ich kochen will«, erwiderte Kirow, »nicht, weil ich es muss.«
»Da ist ein Unterschied?«, fragte Pekkala.
»Der entscheidende«, sagte Kirow. »Müsste ich jeden Tag für Leute wie Nagorski kochen, würde es das Kochen jeglicher Freude berauben. Wissen Sie, was er gegessen hat, als ich im Restaurant war? Blinis. Zu kaspischem Sevruga-Kaviar. Jedes Stück davon eine vollkommene schwarze Perle. Er hat alles nur in sich hineingestopft. Die Kunst des Essens ist an ihm völlig verlorengegangen.«
Unsicher sah Pekkala in seine leere Schale. Er hatte sich um ein würdevolles Tempo bemüht, aber wäre Kirow nicht gewesen, hätte er seine Schale längst zur Seite gestellt und würde nun direkt aus dem Topf essen.
»Mit Nagorski irgendwie vorangekommen?«, fragte Kirow.
»Wie man’s nehmen will«, seufzte Pekkala.
»Die Maschine, die er gebaut hat«, sagte Kirow. »Ich habe gehört, sie wiegt mehr als zehn Tonnen.«
»Dreißig, um genau zu sein«, antwortete Pekkala. »Wenn man ihn so reden hört, könnte man glauben, der Panzer gehört zu seiner Familie.«
»Halten Sie ihn für schuldig?«
Pekkala schüttelte den
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