1200 - Operation Ikarus
»Was hast du denn, mein kleiner Liebling?«, flüsterte das Kind.
Es rückte ein Stück im Bett nach vorn, streckte dem Tier die Hände entgegen und nahm es auf seinen Arm.
Der junge Kater war leicht. Aber er schnurrte nicht, wie er es sonst tat, wenn er den engen Kontakt mit dem Menschen spürte. Rosy kannte den kleinen Kerl genug. Sie wusste auch, dass so junge Katzen Kinderkrankheiten bekamen, und deshalb stand für sie fest, dass sie am nächsten Tag mit Napoleon zum Tierarzt musste.
»Ja, mein kleiner Schatz«, sagte sie und fuhr mit dem Kinn über das Fell. »Wir beide gehen morgen zum Doktor. Die Tierärztin ist eine supernette Frau, die ich kenne. Da wirst du untersucht, und danach wird es dir wieder besser gehen.«
Erneut gab das Tier einen Laut ab. Diesmal klang es nicht so jämmerlich. Rosy hörte ein leises Schnurren, und darüber freute sie sich. Ihre Eltern hatten der Anschaffung des Katers nur zugestimmt, wenn sie die Verantwortung übernahm. Das hatte Rosy versprochen, und sie tat wirklich alles, damit es Napoleon gut ging.
Sie hatte schon geschlafen und wollte nun sehen, wie lange.
Ihre Armbanduhr lag auf dem kleinen Nachttisch. Ohne Napoleon loszulassen, drehte sie sich herum. Der Blick auf das Zifferblatt zeigte ihr, dass es fast auf den Punkt Mitternacht war.
Sie fühlte sich fit, und sie war hellwach.
Napoleon noch im Arm haltend, sah sie sich um. Ihr Zimmer lag oben im Haus. Es war das schönste, denn vom Fenster aus konnte sie über das Meer blicken. Nun ja, ein Meer war es nicht gerade, sondern der Firth of Tay, aber hier in Dundee war er an einigen Stellen so breit, dass es ihr wie ein Meer vorkam.
Und bei Nebel waren die Orte auf der anderen Seite des Fjords sowieso nicht zu erkennen.
In dieser Nacht gab es keinen Nebel. Das Wetter war wunderbar klar. Es sollte auch noch so bleiben. So konnte sie, wenn sie wollte, sich jeden Abend den prächtigen Sternenhimmel anschauen und ihren Träumen nachgehen.
Das Quengeln des Katers hatte sie hellwach gemacht. Sie wollte Napoleon auch nicht mehr in seinen Korb zurücklegen.
Wenn ihm etwas weh tat, dann war es für ihn gut, die körperliche Nähe zu spüren, und so hielt Rosy ihn auch fest, als sie sich aus dem Bett drehte und aufstand.
Ihr Zimmer war nicht groß, aber gemütlich eingerichtet. Ihre Eltern hatten nicht mitbestimmt. Sie hatte sich die Möbel aussuchen können. Ein Computer gehörte dazu, den Rosy allerdings nicht mochte. Ihr waren die lebendigen Dinge lieber.
Sie spielte lieber mit ihrem Kater, als vor dem Bildschirm zu hocken.
»So«, sagte sie zu ihm, als wäre er ein Mensch. »Jetzt werden wir beide an das Fenster gehen, und dann kannst du nach draußen sehen. Bis auf das große Wasser.«
Napoleon gab ein leises Jaulen ab, als hätte er jedes einzelne Wort verstanden.
Rosys Vater war Architekt. Er hatte das Haus selbst entworfen und auch beim Bauen teilweise mitgeholfen. Die Familie hatte auch noch ihre Wünsche vortragen können, und Rosy hatte immer für ein großes Fenster geschwärmt. Wie groß ihr Zimmer war, spielte keine Rolle. Für sie war es wichtig, ein großes Fenster zu haben, und den Wunsch hatte der Vater ihr erfüllt.
Sie liebte den freien Blick nach draußen. Da das Haus an exponierter Stelle stand, war ihr der auch vergönnt. Hinter der Scheibe zu stehen, war etwas Einmaliges für sie. Auf der einen Seite fühlte sie sich beschützt, auf der anderen kam sie sich vor, als stünde sie mitten in der Außenwelt.
Also reichte das Fenster bis zum Boden herab, und ihr Vater hatte sogar noch eine Glastür an der Seite anbauen lassen.
Durch die konnte Rosy den kleinen Balkon vor dem Fenster betreten.
Das tat sie nicht. Es war einfach zu kalt. Winterlich kalt und zugleich herrlich. Ein klarer Himmel. Einmalig in seiner dunkelblauen Farbe. Wie eine Leinwand, die keinen Anfang und kein Ende besaß, aber an bestimmten Stellen eingeschnitten war, um das Licht, das hinter ihr lauerte, durchscheinen zu lassen.
Rosy hatte den Himmel schon oft gesehen. Sie konnte ihn nie genug betrachten. Für sie war er immer ein großes Wunder.
Egal, wie er aussah, er war einfach prächtig, und er regte dabei stets ihre Fantasie an.
Manchmal wünschte sie sich, auf den Wolken reiten zu können. Einfach weg von hier. Hinein in die Unendlichkeit.
Höher und immer höher. Verschwinden, die Welt von unten sehen und dann mit einer gewaltigen Kraft versuchen, alles zu vernichten, was es an Schlechtem auf dieser Erde gab.
Das
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