Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
lief, hielt sie immer wieder nach dem Mankettibaum Ausschau, dessen dreigeteilte Krone jetzt während der Dürrezeit weithin sichtbar war. Die schmale rotsandige Senke mit den Rosinenbüschen hatte sie bereits durchquert, bevor die Sonne in der Mitte des Himmels gestanden hatte. Auch das schwer zu durchdringende Kameldorngestrüpp hatte sie nun hinter sich. Links von ihr erkannte sie den kleinen, felsigen Hügel mit seinen kugelrunden, roten Steinen. Auf seiner Spitze wuchs aus dem glatten Geröll ein mächtiger Giraffenbaum. Im kräftigen Licht der winterlichen Nachmittagssonne wirkte der leuchtende Hügel wie eine friedliche Oase. Aber der Schein trog. Zwischen den Steinen und der immergrünen Krone des Baumes lauerten allerlei Gefahren. Die Buschmänner mieden für gewöhnlich diesen Ort. Er war voller Llangwasi, voller Geister, deren Unmut und Unberechenbarkeit niemand auf sich ziehen wollte. So war der Fuß des Hügels bei den Wüstenlöwen sehr beliebt. Nakeshi fürchtete kein Tier mehr als diese kräftigen, unberechenbaren Raubkatzen. Die
Savannenkönige standen mit den Joansi in ständiger Konkurrenz im Kampf ums tägliche Überleben. Entweder waren es die Buschmänner, die versuchten, den Löwen ihre Beute abzuluchsen, oder es waren die Löwen, die wiederum den Joansimännern ihre Beute streitig machten. Selbst der Schatten spendende Giraffenbaum mit seiner weit ausladenden Krone war kein friedlicher Ort. Auf seinen Ästen hielten sich oftmals Leoparden auf, die in der luftigen Höhe ihre Beute vor den Löwen und Hyänen in Sicherheit brachten. Nakeshi schüttelte sich bei dem Gedanken an die Raubtiere und fiel in den ausdauernden Schnellschritt, der ihr wie allen Buschmann-Frauen zu eigen war. Sie beschloss, den Hügel in einem weiten Bogen zu umrunden. Jetzt war es nicht mehr weit bis zu dem Hain mit den Mankettibäumen. Sie musste sich nur beeilen. Die Sonne stand schon tief, und sie musste unbedingt vor der » Zeit, in der man die Leute nicht mehr sehen kann, weil es dunkel ist « zurück bei ihren Leuten sein. Doch vorher hatte sie eine wichtige Aufgabe zu erledigen. Sie hatte Sheshe versprochen, die Gwa-Wurzel für sie auszugraben... und sie würde ihr Versprechen halten.
Ein stechender Schmerz schoss völlig unerwartet durch ihren Unterleib. Sie stöhnte leise und beugte sich nach vorn, um ihm entgegenzuwirken. Doch erst nachdem sie zweimal tief durchgeatmet hatte, ließ das Stechen endlich nach. Sie wollte es nicht wahrhaben, doch tief in ihrem Innern wusste sie genau, woher der Schmerz kam. Die Zeichen waren eindeutig. Schon bald würde zum siebzehnten Mal die Zeit kommen, in der Debe den Löwen besiegt hatte und Chuka ihr das Leben geschenkt hatte. Sie ahnte, dass der Schmerz, der in ein gleichmäßiges Ziehen übergegangen war, etwas damit zu tun hatte, dass sie nun bald endgültig zu einer Frau werden würde. Der Gedanke gefiel ihr ganz und gar nicht. Nakeshi fürchtete sich davor. Denn mit der ersten Blutung war die » Zeit, in der man sich keine Sorgen machen muss « für immer vorüber. Viele Buschmann-Mädchen wollten nicht erwachsen
werden, um keine Verantwortung in der Gruppe übernehmen zu müssen. Als Kinder waren sie frei und durften Fehler machen und falsche Entscheidungen treffen. Das hatte keinerlei Folgen für sie, weil jeder Erwachsene in der Gruppe wusste, dass Kinder noch keine Verantwortung übernehmen können. Die Kindheit war wie ein schützender Umhang, der sie vor allen Sorgen von außen schützte. Doch Nakeshi scheute sich nicht vor der Verantwortung. Sie freute sich sogar darauf, wenn endlich auch ihre Stimme in der Gruppe Gewicht bekommen würde. Der Grund, weshalb sie nicht erwachsen werden wollte, war ein ganz anderer. Für sie war die Tatsache, dass sie mit dem Erwachsensein auch ihre Unabhängigkeit verlieren würde, weitaus schlimmer. Ihre Leute würden von ihr erwarten, dass sie sich einen Mann suchte und mit ihm in eine eigene Hütte zog. Sie würde Kinder haben und gebunden sein. Vorbei wären die Zeiten, in denen sie ihre Freiheit genoss, um mit der Heilerin Sheshe die Natur und ihre Wunder zu erkunden. Aber diese Freiheit wollte sie auf keinen Fall verlieren! Nakeshi schob trotzig die Unterlippe vor und ballte ihre Hände zu Fäusten. Noch war es ja nicht so weit!
Mit neuer Entschlossenheit legte sie die letzte Strecke bis zu dem Manketti-Hain zurück. Der Baum, den sie suchte, ragte auffallend zwischen den anderen hervor. Sein Stamm war so dick, dass vier
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