Der Ruf der Kiwis
verschanzte sich hinter dem dicksten Schlafsack. Jack belegte ohne Widerrede das zweite Bett in der Hütte; der Ritt durch die Kälte und Nässe hatte ihm erneut zugesetzt. Geduldig trank er den Teeaufguss, den Wiremu ihm brachte.
»Ich verstehe es nicht ganz«, sagte der junge Maori. »Sie teilt das Zelt mit dir, aber hier ...«
Jack zuckte die Achseln. »Im Gemeinschaftshaus, Wiremu? Ginge das nicht zu weit?«
»Werdet ihr denn nicht heiraten?«, fragte Wiremu. »Ich dachte ...«
Jack lächelte. »An mir soll’s nicht liegen. Aber bevor ich mir jetzt die gleiche Abfuhr hole wie du ...«
Wiremu grinste schmerzlich. »Pass auf dein
mana
auf!«, bemerkte er.
Sie erreichten Kiward Station am nächsten Abend, und glücklicherweise hatte es den ganzen Tag nicht geregnet. Die Männer hatten den Schafen die Ställe geöffnet, Elaine hatte sogar die Pferde aus den Boxen gelassen und sich an ihrem Herumtoben im Auslauf gefreut. Alles war an diesem Tag voller Erwartung. Schließlich ritten Lilian und Elaine dem Viehtrieb entgegen.
Gloria schaute mehr als verdutzt, als sie ihre Cousine wiedersah.
»Warst du nicht in Auckland verschwunden?«, erkundigte sie sich und musterte Lilian. Der rothaarige Kobold hatte sich in den Jahren kaum verändert. Lilian war natürlich erwachsener geworden, aber sie hatte immer noch ihr verschmitztes, unbeschwertes Lachen.
»
Du
warst verschwunden!«, bemerkte Lily. »Ich hab nur geheiratet!« Auch sie musterte Gloria, aber sie sah ein gänzlich anderes Mädchen als das dickliche, verängstigte und mürrische Ding aus Oaks Garden. Gloria saß selbstbewusst im Sattel. Ihr Gesicht war rot und von den Strapazen des Abenteuers gezeichnet, doch es hatte Konturen bekommen. Lilian hatte selten ein so interessantes Gesicht gesehen. Sie musste sich das für ihr nächstes Buch merken ... Ein Mädchen, das auf der Suche nach ihrem Liebsten die halbe Welt umreiste. Eine Neuauflage von
Jackaroe
. Allerdings hatte sie das unbestimmte Gefühl, Gloria würde ihr niemals ihre ganze Geschichte erzählen.
Lily berichtete vergnügt von ihrem Leben in Auckland und ihrem Baby, Elaine erzählte von Kiward Station. Jack und Gloria schauten schweigend einander an und warfen ab und zu stolze Blicke auf die Tiere, die sie vor sich her trieben. Als sie schließlich den Hof erreichten, warteten die Männer bereits, um die Schafe auf die Pferche zu verteilen. Maaka war da, um alles zu koordinieren, aber die Männer, die mit auf dem Viehtrieb gewesen waren, blickten nur auf Gloria. Und Gloria blickte auf Jack.
»Also gut, Jungs«, sagte Jack. »Es ist schön, wieder da zu sein. Wir können uns alle gratulieren – Paora, Anaru, Willings, Beales. Das war sehr gute Arbeit. Ich denke, wir reden mit der Chefin über einen kleinen Bonus.«
Jack sah Gloria an. Gloria lächelte.
»Ich nehme an, ihr habt die Scherschuppen für die Mutterschafe freigehalten. Die Widder treiben wir direkt weiter, auf das Grünland hinter Bold’s Creek. Und ich möchte das Wort
tapu
dabei nicht mehr hören! Wenn’s trocken bleibt, können die Schafe, die abgelammt haben, morgen zum Ring der Steinkrieger ...«
Jack erteilte gelassen Anweisungen, während Gloria und einige der Männer bereits den Hütehunden pfiffen, um die Herden zu trennen.
»Maaka, übernimmst du dann die Aufsicht? Ich möchte meine Mutter begrüßen. Und wie es aussieht, ist ja das ganze Haus voller Familie.«
»Ein Bad wäre auch eine gute Idee«, bemerkte Gloria, während sie abstieg. »Ich bringe die Pferde in den Stall, Jack. Geh du ruhig schon rein und wärm dich auf.«
Sie führte Ceredwen und Anwyl auf die Stallgebäude zu, als Gwyneira die Tür zum Boxenstall von innen aufriss. Eigentlich hatte Jack seine Mutter im Haus erwartet – wenn Besuch da war, fand sie selten Zeit, in den Ställen nach dem Rechten zu sehen. Gwyneira trug ein altes Reitkleid, ihr weißes, krauses Haar machte sich selbstständig wie früher, und ihr Gesicht strahlte so jugendlich, wie Jack es seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.
»Jack, Gloria!« Gwyneira lief auf die beiden zu und umarmte sie gleichzeitig. Sie nahm keine Rücksicht darauf, dass Gloria sich versteifte und Jack sie nur höflich an sich zog. All das würde sich auf die Dauer ändern; es hatte Zeit. Und seine Wichtigkeit verblasste vor dem Ereignis im Stall, das für Gwyneira McKenzie auch nach all den Jahren immer noch ein Wunder war.
»Kommt rein, hier will euch jemand begrüßen!«, sagte sie
Weitere Kostenlose Bücher