Der Ruf Der Trommel
mit Bedauern.
Die Leiche schwang sacht, ein totes Gewicht, das wie ein Senkblei an seiner Schnur baumelte. Aus der Menge erklang ein Seufzer der Verschüchterung und Erleichterung. Seeschwalben kreischten am brennenden Himmel, und entfernte Hafengeräusche durchdrangen gedämpft die schwere Luft, doch der Platz war in Schweigen gehüllt. Von meinem Platz aus konnte ich das leise Plitsch, Platsch, Plitsch der Tropfen hören, die vom Zeh der baumelnden Leiche fielen.
Ich hatte Gavin Hayes nicht gekannt, und sein Tod ging mir nicht persönlich nahe, doch ich war froh, daß es schnell gegangen war. Ich warf einen verstohlenen Blick auf ihn und fühlte mich wie ein Störenfried. Es war eine höchst öffentliche Art, einen ganz privaten Akt zu vollbringen, und es machte mich verlegen, ihn anzusehen.
Der Henker hatte seine Sache gut gemacht: Es hatte kein entwürdigendes Gezappel gegeben, keine vorquellenden Augen, keine heraushängende Zunge. Gavins kleiner, runder Kopf war scharf zur Seite geknickt, sein Hals war grotesk in die Länge gezogen, doch sein Genick war glatt gebrochen.
Jemand anders dagegen war derweil ausgebrochen. Nachdem er sich von Hayes’ Tod überzeugt hatte, gab der Hauptmann der Wache mit seinem Säbel das Signal, den nächsten Mann zum Galgen zu bringen. Ich sah, wie seine Augen an der rotberockten Kolonne entlangschweiften und sich dann vor Entrüstung weiteten.
Im selben Moment erscholl ein Schrei aus der Menge, und eine Welle der Aufregung breitete sich aus. Köpfe drehten sich, und die Zuschauer drängten gegeneinander, um etwas zu sehen, wo es nichts zu sehen gab.
»Weg ist er!«
»Da ist er!«
»Haltet ihn!«
Es war der dritte Gefangene, der hochgewachsene junge Mann, der den Augenblick von Gavins Tod dazu benutzt hatte, um sein Leben zu rennen. Er hatte sich an der Wache vorbeigeschlichen, die auf ihn hätte aufpassen sollen, sich aber der Faszination des Galgens nicht hatte entziehen können.
Ich sah eine kurze Bewegung hinter einer Bude, ein Aufblitzen ungewaschener, blonder Haare. Einige der Soldaten sahen es ebenfalls und liefen dorthin, doch viele hasteten auch in andere Richtungen, und in der allgemeinen Verwirrung erreichten sie gar nichts.
Der Hauptmann der Wache brüllte mit hochrotem Gesicht, doch seine Stimme war in dem Aufruhr kaum zu hören. Der letzte Gefangene, der ein verblüfftes Gesicht machte, wurde ergriffen und zum
Quartier der Wache zurückverfrachtet, während die Rotröcke hastig begannen, unter der peitschenden Stimme ihres Hauptmanns ordentliche Aufstellung einzunehmen.
Jamie schlang seinen Arm um meine Taille und brachte mich vor einer anrollenden Woge von Menschen in Sicherheit. Soldatentrupps rückten an, formierten sich und marschierten schnellen Schrittes davon, um die Umgebung unter dem grimmigen und zornbebenden Kommando ihres Sergeanten zu durchkämmen, und die Menge wich vor ihnen zurück.
»Wir sollten Ian suchen«, sagte Jamie, während er eine Gruppe aufgeregter Lehrjungen verscheuchte. Er sah Fergus an und deutete auf den Galgen und seine traurige Bürde. »Sag, daß wir die Leiche haben wollen, aye? Wir treffen uns nachher im Willow Tree.«
»Meinst du, sie kriegen ihn?« fragte ich, während wir uns durch das abflauende Gedränge schoben und durch eine kopfsteingepflasterte Gasse zu den Lagerhäusern der Handelsleute gingen.
»Ich denke schon. Wo sollte er denn hin?« Er klang abwesend, und ich sah eine dünne Linie zwischen seinen Augenbrauen. Seine Gedanken waren ganz offensichtlich noch bei dem Toten, und er hatte für die Lebenden nicht viel Aufmerksamkeit übrig.
»Hatte Hayes irgendwelche Verwandten?« fragte ich. Er schüttelte den Kopf.
»Das habe ich ihn auch gefragt, als ich ihm den Whisky brachte. Er meinte, einer seiner Brüder könnte noch leben, hatte aber keine Ahnung, wo. Der Bruder war kurz nach dem Aufstand deportiert worden - nach Virginia, meinte Hayes, hat aber seitdem nie wieder von ihm gehört.«
Kein Wunder - ein Zwangsarbeiter hätte keine Möglichkeit gehabt, mit seinen Verwandten in Schottland in Verbindung zu treten, es sei denn, sein Herr war so großzügig, für ihn einen Brief dorthin zu schicken. Und großzügig oder nicht, es war unwahrscheinlich, daß ein solcher Brief Gavin Hayes erreicht hätte, denn er hatte zehn Jahre im Gefängnis von Ardsmuir verbracht, bevor er ebenfalls deportiert wurde.
»Duncan!« rief Jamie, und ein hochgewachsener, dünner Mann drehte sich um und hob als Erwiderung
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