Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
die sie umgaben, auf die Gemälde und das römische Glas, auf das chinesische Porzellan mit der graugrünen Glasur. Wie lange würde die Kunst sie noch schützen können?
Vielleicht war das Kloster von Mirso die einzig wahre Zuflucht für jemanden, wie sie es war. Der Gedanke deprimierte Beatrix. Sie hätte nie gedacht, dass sie einmal an diesen Punkt kommen würde. Aber Mirso war besser als der Wahnsinn.
Wellesley-Pole öffnete den Mund. Sicherlich wollte er das Gespräch wieder auf die Politik lenken. Sie könnte das nicht ertragen. »Gentlemen, ich habe Kopfschmerzen. Bitte entschuldigen Sie mich.« Sie erhob sich, flüsterte Symington etwas ins Ohr und verließ den Salon. Schockierte Blicke folgten ihr. Der Rückzug würde ihrer aller Begehren, wieder eingeladen zu werden, nur noch mehr anfeuern. Der Hunger in ihren Adern wurde noch etwas grimmiger.
In dem kleinen Zimmer, in dem ihre Lieblingsgemälde hingen und ihre Lieblingsbücher standen, versuchte Beatrix sich wieder zu fassen. Morgengrauen in zwei Stunden. Die letzten Gäste wankten zu ihren Kutschen. Der Türklopfer klapperte leise, als die Tür sich schloss. Sie hörte alles überdeutlich. Symington kündigte Blendon an.
»Jetzt, lieber Blendon, können wir endlich allein sein.« Sie musste damit auskommen. Die Zeit wurde knapp.
Blendon errötete bis unter die Haarwurzeln. »Es ist … es ist mir eine Ehre.«
»Wollen Sie heraufkommen und mir behilflich sein, mein Haar zu lösen?« In ihr Boudoir gebeten zu werden, um ihr bei der Toilette zuzusehen, war eine begehrte Auszeichnung. Erwählt zu werden, jene kunstvolle Frisur zu lösen, bedeutete das Nirwana für den auserkorenen Glücklichen – weil er glaubte, sein Ziel fast erreicht zu haben. Aber so war es nicht.
Blendon machte große Augen und nickte eifrig. Er hatte gewiss die Geschichten über ihr Können in Liebesdingen gehört. Diese Geschichten verliehen ihr Macht. Sie ging auf die breite Haupttreppe zu. Einige diskrete Dienstboten dämpften das Licht. Dunkelheit folgte ihnen, als Blendon sich ihr anschloss.
Sie spürte den Hunger in sich immer fordernder. Sie hatte ihr Bedürfnis zu lange verleugnet. Das war ihr einziges Problem. Sie griff nach dem Kandelaber, der auf einem kleinen Rokokotisch stand. Schatten huschten über Wandteppiche mit Jagdszenen, ließen die Angst in den Augen des Hirsches aufflackern, den die geifernden Jagdhunde mit den hell schimmernden Zähnen in die Enge getrieben hatten. Beatrix spürte das Blut in Blendons Kehle pochen. Sein Atem ging unregelmäßig vor Erwartung. Niemals würde er erraten, was heute Nacht wirklich mit ihm geschehen würde. Denn könnte er es, so würde er schreiend auf die Straße rennen.
Die Verzweiflung, die sie umtrieb, war in ihren Erinnerungen an das Böse in Asharti und an Stephan Sincais Unterweisungen lebendig, obwohl sie seit Jahrhunderten keinen von beiden gesehen hatte. Sie verstand es nicht. Hatte sie nicht ihr Leben damit verbracht, dagegen anzukämpfen, so zu werden wie Asharti? Immer, wenn sie ihren Hunger stillte, rückte das Böse Ashartis näher und drängte sie, Verlangen und Blut miteinander zu vermischen. Aber sie tat es nicht. Sie war nicht wie Asharti. Nicht mehr. Doch trotz ihres Widerstands sammelte sich die Dunkelheit um sie. Sie hielt ihre Kerze dagegen, aber die Finsternis war stark. Zahllose andere hatte sie schon verschlungen. Und am Ende würde sie gewinnen.
Beatrix schob den schweren Vorhang beiseite und schaute auf die Straße. Jetzt, da sie ihren Hunger hatte stillen können, war sie ruhig. Die Morgendämmerung tauchte die zu Ende gehende Nacht in helles Grau. Blendon stand unten auf der Straße. Am Leibe trug er nur sein Hemd, und er sah verwirrt aus. Das würde ihren Ruf nur festigen. Sie waren ja so beeinflussbar. Sie hatte ihm eingeflüstert, dass sie sich leidenschaftlich geliebt hatten. Seine Fantasie würde die Einzelheiten ergänzen. Sie hatten es nicht getan. Sie hatte mit keinem Mann mehr geschlafen seit … sechshundert Jahren? Zu denken, dass alle sie für eine Kurtisane hielten! Es war absurd. Der Wunsch nach dem Akt an sich war zu einem fernen Gedanken geworden, noch nicht einmal zu einer Erinnerung. Beatrix ließ den schweren Stoff zurückfallen; er war ihr Schutz gegen die Sonne, die bald aufgehen würde. Sie wandte sich ins Zimmer. Zumindest war sie jetzt für eine Zeit lang vor den Erinnerungen sicher. Aber allein schon dieser Gedanke schien etwas in ihr auszulösen, denn unerwartet kam
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