Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
weiteten sich für einen kurzen Moment, bevor sie sich umwandte und gehorchte. Ihr Kleid schleifte über die Binsen, als sie in ihr Zimmer ging. Was hatte sie in den Augen ihrer Mutter gesehen?
An jenem Abend war sie in ihrem schönen roten Kleid zu Bett gegangen, aber sie hatte nicht in den Schlaf gefunden.
Am Berkeley Square starrte Beatrix auf das hohe Bett, das von Blendons ekstatischem Erlebnis des Gebens noch zerwühlt war. In jener Nacht vor so vielen Jahrhunderten hatte sie ihre Mutter das letzte Mal gesehen. Als sie am nächsten Morgen von der Kirche nach Hause kam, war Marte tot und ihre Mutter verschwunden. Jetzt überraschte sie das nicht mehr. Ihre Mutter war schlecht dafür gerüstet gewesen, mit einem Kind umzugehen, ganz zu schweigen von dem Aufruhr, den die Pubertät für ihresgleichen bedeutete. Ein winziger Blitz von Zorn flammte in Beatrix’ Brust auf. Hätte ihre Mutter nicht Marte zurücklassen können? Als Trost für ihre Tochter, während der schrecklichen Verwandlung, die danach über sie gekommen war? Aber vielleicht war Marte ohnehin dem Untergang geweiht gewesen. Besser, Marte war durch die Hand ihrer Mutter gestorben, als dass Beatrix sie getötet hätte.
Warum dachte sie jetzt an jene Nacht mit ihrer Mutter? Vielleicht war jene Nacht der Anfang gewesen. Beatrix hatte immer geglaubt, es wären Stephan und Asharti und die schreckliche Zeit gewesen, die darauf gefolgt war. Aber vielleicht hatte es schon damit begonnen, mit diesem … Desinteresse ihrer Mutter für sie. Sie schloss ganz fest die Augen. Damit hatte die Verkümmerung ihrer Seele begonnen. Was war von ihr geblieben? Und war das, was noch von ihr übrig war, es wert zu kämpfen, sich gegen die Dunkelheit zu schützen?
Beatrix versuchte, die Gedanken beiseite zu schieben, als seien es Spinnweben. Die Morgendämmerung machte sie immer melancholisch. Sie zog ihren blutroten Morgenrock enger um sich und kroch in das große Bett. Sie hoffte, der Schlaf würde sie vor ihren Erinnerungen beschützen.
Kapitel 2
J ohn Staunton, Earl of Langley, schlenderte Richtung Westen über den Piccadilly. Er war formvollendet gekleidet in Kniehosen, Abendschuhen, einer makellos gestärkten, kunstvoll gebundenen Halsbinde und einem Mantel, der so eng war, dass er Witherings Hilfe brauchen würde, ihn wieder abzulegen. Er hoffte, dass der Verband an seiner Schulter fest genug saß und sich unter seiner Kleidung nicht abzeichnete. Er wurde heute Abend im Salon der Gräfin Lente erwartet.
Im Schein der modernen Gaslaternen glitzerten die Schaufenster von Regentropfen, und teure Hotels verströmten ihre lärmende Festlichkeit auf die Straße. Der Green Park zu seiner Linken zeigte nur noch nachtschwarzes Gras und die im Frühlingswind tanzenden Silhouetten seiner Bäume. Zwei Franzosen hatten in Calais mit ihrem Leben dafür bezahlt, dass sie ihm die Wunde an der Schulter zugefügt hatten. War das wirklich bereits neun Tage her? Der Earl folgte weiter seinem Weg die Hay Hill Street hinauf.
Eine Bewegung zu seiner Linken und gleich darauf auch hinter ihm erregte seine Aufmerksamkeit. Er fuhr rechtzeitig genug herum, um mit seinem Spazierstock den Schlag eines Knüppels abzuwehren. Sie waren zu zweit. Nein, zu dritt. Stämmige Kerle. John erhaschte einen flüchtigen Blick auf schäbige Kleidung, als er nach dem Angreifer schlug, der ihm am nächsten stand. Mit dem Stock platzierte er einen Schlag auf das Ohr des Schurken. Er rammte seinen Ellbogen in den Bauch des Mannes zu seiner Linken, während er einen Hieb mit einem Knüppel auf seine gesunde Schulter abbekam. Es gelang ihm, den nächsten Schlag mit seinem Rücken abzufangen und seine Verletzung zu schützen. Jetzt fielen sie zu dritt über ihn her. Er bekam einen Schlag gegen die Stirn. Jemand verdrehte ihm die verletzte Schulter nach hinten. Er stieß seinen Stiefelabsatz gegen ein Knie. Es knackte. Einer der Angreifer taumelte rückwärts. Die verbleibenden zwei prügelten weiter auf ihn ein.
Er schleuderte sie von sich. Gerade genug Platz – er zog das Rapier, das in seinem Spazierstock verborgen steckte. Das gab den Kerlen zu denken! John stand kampfbereit da, während er beobachtete, dass der Mann mit dem zerschmetterten Knie sich aufzurichten versuchte. »Nun, Jungs«, forderte er die Männer heraus. »Habt ihr Appetit auf einen Nachschlag?«
Der, der sein Knie umklammert hielt, knurrte: »Schnappt ihn euch, Jungs. Ist doch nur ein Dandy mit ’nem Stachel.«
Die zwei, die noch
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