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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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steckte er sich dann etwas in die Tasche.
    Er trug eine weite khakifarbene Hose und an den Füßen Gummistiefel, was bei dem nassen Rasen das Beste war. Über der Hose, die mit einem Gürtel auf den schmalen Hüften gehalten wurde, trug er, obwohl es in Bogotá nie wirklich sommerlich warm wurde, nur ein graugrünes Unterhemd, das einen muskulösen Oberkörper und breite Schultern zur Geltung brachte. Sein Alter war schwer zu schätzen, vermutlich war er kaum zwanzig Jahre alt. Seine glatte Haut schimmerte bronzefarben, sein Haar war rabenschwarz, die Augen schmal und dunkel. Er gehörte eindeutig zu den indianischen Ureinwohnern, die man Indígenas nannte.
    In Kolumbien mischten sich viele Volksgruppen, Weiße spanischer Herkunft, ehemalige schwarze Sklaven, Indianer unterschiedlicher Stämme. Es gab im Land mehr Kinder und Jugendliche als Erwachsene. Viele von ihnen verdienten sich irgendwie ihren Lebensunterhalt auf der Straße, in Cafés, als Boten, als Straßenverkäufer. Elena wurde nie müde, mich vor ihnen zu warnen. Sie wechselte sogar die Straßenseite, wenn sie einen Bettler sah oder ein Kind mit Bauchladen.
    Ich zögerte. Mein erster Impuls war es gewesen, sofort runterzurennen und diesen Indio zur Rede zu stellen. »Gib die Uhr wieder her oder ich hole die Polizei!«
    Und dann? Wenn er mich auslachte? »Welche Uhr?« Wenn er den zu Tode Gekränkten spielte? »Glaubst du, nur weil du weiß bist, kannst du behaupten, ich sei ein Dieb?« Und welche Polizei sollte ich holen? Bis ich hinaufgegangen und die Polizei angerufen hätte und bis die erschienen wäre, wäre der Kerl längst über alle Berge gewesen. Er hätte damit zwar seine Arbeit verloren, denn hier konnte er sich nicht wieder blicken lassen, aber meine oder vielmehr Simons Uhr hätte ich trotzdem nicht wiederbekommen.
    Was konnte ich ihm also anhaben? Ich, ein aufgeregtes Mädchen aus Europa? Er würde sich über mich lustig machen. »Wo soll ich die Uhr haben? In der Tasche? Möchtest du mich durchsuchen?«
    Ich konnte ihm unmöglich in die Hosentasche fassen. Nicht einem jungen kolumbianischen Mann, der in der anderen Hosentasche vielleicht ein Messer stecken hatte. Und dieser Gärtner strotzte nur so vor männlichem Selbstbewusstsein. Jeder seiner ruhigen und flüssigen Schritte forderte die Luft, den Wind, die Sonne heraus, ihn zu streicheln, ihm zu schmeicheln, ihn zur Krone der Schöpfung zu erheben.
    Nein, er würde mich auslachen, ohne Zweifel. Und was stellte ich mich so an wegen einer Uhr, die für ihn vermutlich ein Vermögen wert war und für mich so gut wie gar nichts? Fast schämte ich mich jetzt schon. Aber durfte ich es ihm einfach so durchgehen lassen? Nur weil ich unermesslich reich war, verglichen mit einem Gärtnerjungen?
    Und schließlich war die Uhr sehr wohl etwas wert. Wenn auch nur ideell. Sie war die Uhr von Simons totem Vater, das Pfand meiner Wiederkehr. »Damit du in einem Jahr wiederkommst«, hatte Simon zum Abschied gesagt. »Damit du dich nicht etwa verliebst und uns vergisst.«
    Dazu muss ich allerdings sagen, dass Simon und ich nie miteinander gegangen waren – nicht, dass da Irrtümer aufkommen! Er war nämlich eigentlich in Vanessa verliebt. Aber sie nicht in ihn. So hatten wir beiden Überbleibsel aus Vanessas Anhang uns eines Abends bei einer Party verbündet, bei der Vanessa mich und ihn in einer Ecke hatte sitzen lassen. Wir hatten angefangen uns zu unterhalten, über alles Mögliche. Simon war ziemlich belesen, nicht so oberflächlich wie die anderen Jungs. Er wollte so wie ich Medizin studieren und dann Arzt werden und den Krebs besiegen. Wir hatten beschlossen, dass wir zusammen Medizin studieren würden, und zwar in Berlin. Im Grunde hatte ich da erst entschieden, das Gleiche zu studieren wie meine Eltern. Bis dahin hatte ich es immer abgelehnt, das zu sagen, wenn Onkel und Tanten und allerlei Freunde und Bekannte meiner Eltern mich danach fragten. Anscheinend gab es keine andere Frage als diese, um ein Gespräch mit einer Minderjährigen anzufangen. »Na, was willst du denn mal werden?«
    »Gar nichts!«, hatte ich früher gesagt. »Ich bin schon was. Ich bin Jasmin Auweiler.« Das hatte tantenhaftes Gelächter ausgelöst. Ihr wisst alle, wie tantenhaftes Gelächter klingt? Laut, leicht entrüstet und ziemlich hochnäsig. Ich hasste das. Als ich anfing zu sagen, dass ich Ärztin werden würde, waren alle plötzlich ganz zufrieden.
    Simons Uhr mit ihrem alten Lederarmband und der glatten Unterseite

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