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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Frauen keinen Führerschein machen und nicht Auto fahren, nicht wahr?«, stichelte Boris weiter.
    Chalil hob das Kinn und nagelte seinen dunklen Blick in Boris’ blassblaue Augen. Doch seine Miene blieb ruhig und freundlich. »Ich lade dich herzlich ein, uns einmal zu besuchen. Dann wirst du sehen, dass die Straßen voll sind von Frauen, die Auto fahren.«
    »Was Sie meinen, Boris«, griff mein Vater ein, »ist Saudi-Arabien. Dort dürfen Frauen nicht allein Auto fahren. Und dort gibt es auch offiziell keinen Alkohol. Dubai ist dagegen eher westlich orientiert.«
    Doch so schnell wollte sich Boris nicht geschlagen geben. »Aber du trinkst keinen Alkohol, Kalil? Zumindest habe ich dich noch nie auch nur ein Bier mit uns trinken sehen. Bist du ein strenggläubiger Muslim? Betest du auch fünf Mal am Tag?« Boris hob die Augen zum dunklen Himmel, aus dem es Schnee rieselte. »Die Sonne ist untergegangen, müsstest du nicht längst deinen Gebetsteppich ausgerollt haben und dich gen Mekka verbeugen?«
    »Gibt es bei euch nicht auch Menschen, welche die Gebote weniger streng befolgen?«, fragte Chalil freundlich, wenn auch leicht genervt. »Außerdem erlaubt es der Islam, unter Umständen auf die täglichen Waschungen und Gebete zu verzichten, auf Reisen zum Beispiel.«
    Boris lachte gemütlich. »Und du bist gerade auf Reisen. Verstehe. Aber warum gerade auf Reisen?«
    »Weil der Reisende früher oft nicht wusste, wo Mekka liegt.«
    »Aber heute gibt es Kompasse!«
    »Und in welcher Richtung liegt von hier aus gesehen Mekka?«
    »Im Osten!«, bemerkte einer der anderen Studenten, versuchte, sich auf dem Marktplatz zwischen den Häusern zu orientieren und streckte dann den Arm Richtung Stiftskirche aus. »Dort.«
    »Nein, dort ist Osten!«, widersprach ein anderer und deutete mit großer Geste in die Gegenrichtung zum Kaufhaus Breuninger.
    »Und ich müsste auch genau wissen«, fuhr Chalil amüsiert fort, »wann in diesen Breiten an welchem Tag die Sonne aufgeht, wann sie am höchsten steht und wann sie untergeht und das letzte Licht verlöscht. Bei uns steht das auf die Sekunde genau in der Zeitung.«
    »Außerdem ruft der Muezzin die Gebetsstunden aus!«, ergänzte Boris. »Und hier irgendwo im Schneematsch den Gebetsteppich ausrollen, ist auch ziemlich eklig. Schmuddelwetter ist einfach nix für den Islam. Prost!«
    »Ganz schön kompliziert, eure Religion«, bemerkte ein anderer.
    »Für uns nicht«, antwortete Chalil, immer noch ruhig. »Ihr habt doch auch Regeln.«
    »Nee. Ich nicht!«, röhrte einer. Die Jungs lachten.
    Ich musste mir im Stillen eingestehen, dass ich keine Ahnung hatte. Was hatten wir für Regeln? Jedenfalls keine, die mein tägliches Leben bestimmten. Bestenfalls mal Schulgottesdienst zum Schuljahresanfang und ein »so wahr mir Gott helfe!«, wenn ein Minister vorm Bundestag den Amtseid schwor. Wir lebten in einem säkularen Staat, so hieß das, wenn ich mich recht erinnerte. Sicher, wir feierten alle Weihnachten und mein Vater las vorm geschmückten Christbaum am 24. abends die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel vor. Ich wusste, dass Karfreitag der Todestag von Jesus war und man an diesem Tag eigentlich kein Fleisch essen sollte und dass wir an Ostern seine Auferstehung feierten. Aber schon bei Pfingsten wäre ich ins Schwimmen gekommen, wenn ich Chalil hätte erklären sollen, was wir da feierten. Das Pfingstwunder, der wichtigste Feiertag für uns Protestanten – war das nicht irgendwas mit vielen Sprachen und … Ich hoffe, mein Relilehrer liest das jetzt nicht. Und kompliziert war eigentlich nichts. Nun ja, man sollte keinen Sex vor der Ehe haben, aber dafür kam man auch nicht mehr in die Hölle. Und die Hölle war auch eher katholisch. Ich hatte mir über all das nie richtig Gedanken gemacht.
    »Es ist doch eigentlich derselbe Gott, an den wir glauben«, behauptete ich. »Zumindest sollte er es sein.«
    Darauf erwiderte Chalil nichts. Es sagte auch niemand sonst etwas dazu. Chalil senkte den Blick und hob erneut den Kaffeebecher, um einen Schluck zu nehmen. Seine Mundwinkel zuckten leicht, schwer zu sagen, ob amüsiert oder verärgert. Er hatte sich gut im Griff. Er nahm einen zweiten Schluck und ließ den Blick aus nachtdunklen Augen über das Tannengrün und die Auslagen der Buden schweifen. Uns am nächsten stapelten sich rosafarbene und hellblaue Plüschtiere. Eine dick eingemummelte Frau stand dahinter und starrte müde ins vorbeiflanierende Volk. Chalils Blick kehrte zurück zum

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