Der Sohn der Halblinge: Roman (German Edition)
Prolog
Manche glaubten inzwischen, dass es nur eine Legende war.
Aber früher lebten die Halblinge in der Erde und unter den Wurzeln der gewaltigen Bäume, die in den Wäldern am Ostufer des Langen Sees aufragten. Dann gab es eine Zeit, in der sie ihre Häuser in die Wurzeln der Riesenbäume schlugen und diese mit solchem Geschick aushöhlten, dass man glauben konnte, sie wären gar nicht natürlich gewachsen, sondern Zimmerleute aus den Städten hätten sie errichtet.
Aber das eine wie das andere war schon vor langer Zeit viel zu gefährlich geworden, denn die Orks überrannten immer wieder in großer Zahl die Grasmark von Rasal und drangen in die Wälder vor. Sie töteten die meisten, die ihnen in die Quere kamen– und das Schicksal der Erschlagenen war vermutlich gnädiger als das der wenigen, die einen solchen Raubzug überlebten.
Die Orks jedenfalls waren der Grund, aus dem die Bewohner des Halblingwaldes am Langen See ihre Lebensweise änderten. Zu oft war Rauch aus den Wurzelhäusern gequollen, zu oft war der Waldboden mit Halblingblut getränkt worden, als dass man einfach alles beim Alten hätte belassen können. Die Soldaten des von seinem fernen, am nordwestlichen Seeufer gelegenen Hof aus regierenden Waldkönigs schützten die Halblinge kaum vor den Überfällen der Orkbanden. Oft genug waren sie sogar selbst eine Gefahr, denn insgeheim verachteten sie die Bewohner des Halblingwaldes mit ihren großen Füßen und Händen, ihrer kleinen, zierlichen Gestalt und den spitzen Ohren. Dass kaum einer von ihnen größer wurde als ein zehnjähriges Menschenkind, hinderte die Krieger des Waldkönigs keineswegs daran, Grausamkeiten gegen das kleine Volk zu üben, obwohl die Soldaten eigentlich ausgeschickt wurden, es zu schützen. Aber es ging ihnen wohl mehr darum, die Grenzen zu sichern, als die Halblinge vor der Mordgier der Orks zu bewahren.
Mehr als ein Zeitalter war es schon her, dass die Halblinge aus dem Wald am Langen See ihre Lebensweise geändert hatten. Sie waren auf die Bäume gestiegen und bald im Klettern so geschickt, dass kaum jemand ihnen folgen konnte. Lebten sie zunächst in Asthöhlen, so errichteten sie schließlich ganze Dörfer auf den Gabelungen der Riesenbäume, die nirgends so weit in den Himmel ragten wie in diesem Wald.
Das Schicksal der Halblinge war hart.
Noch härter war es allerdings, kein Halbling zu sein, sondern nur unter ihnen zu leben…
Arvan
Bleib hier, du dummes Baumschaf!
Arvan versuchte, das vielfüßige, von Wolle überwucherte Geschöpf mit einem strengen Gedanken daran zu hindern, sich in das äußere Geäst zu begeben. Selbst bei den Riesenbäumen der Wälder am Langen See war dieses Astwerk oft so dünn, dass es auch Baumschafe nicht tragen konnte. Schon gar nicht Baumschafe, die so fett waren wie dieses Exemplar.
Zudem musste Arvan die Herde zusammenhalten. Das war die Aufgabe, die ihm der Halblingstamm, bei dem er lebte, zugewiesen hatte– auch deshalb, weil er für andere Dinge kein richtiges Talent zu haben schien.
Arvan war siebzehn Jahre alt. Er hatte kleine Menschenfüße, ansonsten aber war bei ihm alles größer und kräftiger als bei den Halblingen. Er war kein geschickter Kletterer, sein Menschenkörper war dazu einfach nicht geeignet. Zum Eisenbieger und Schmied taugte er allerdings auch nicht, denn in die niedrigen Höhlen, die zur Verhüttung von Metallen von den Halblingstämmen betrieben wurden und die im Fall der Gefahr schnell verlassen werden mussten, passte er nur dann, wenn er auf Knien herumrutschte.
So hatte sein Ziehvater Gomlo, Baum-Meister des Stammes von Brado dem Flüchter, beschlossen, dass Arvan die Baumschafe hüten sollte. » Diese Kreaturen sind dir ähnlich, Arvan«, hatte er gesagt. » Sie sind schwerfällig im Geiste und in der Bewegung, was bei den meisten Geschöpfen aufs Gleiche herauskommt. Wenn du einigermaßen aufmerksam bist, kannst du die Herde beisammenhalten, ohne allzu viel klettern zu müssen, und das wiederum bedeutet, dass du nicht so häufig abstürzt wie bisher.«
Das war vor drei Jahren gewesen– und wider Erwarten hatte sich Arvan zumindest für diese einfache Aufgabe als talentiert erwiesen. Die vielbeinigen Baumschafe gehorchten ihm. Die Größe dieser Geschöpfe schwankte je nach Ernährung und Zucht zwischen einem großen Halblingsfuß und einem Wildschwein. Mit ihren Klammerkrallen fanden sie an jeder Baumrinde Halt, und sie fraßen Moose, Käfer und Raupen und schlürften manchmal auch das
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