Der Ruf des Kolibris
Tisch und … und traf mich. Ich senkte hastig die Augen. Mein Atem ging schneller, als mir lieb war. Doch ich wagte nicht, wieder aufzublicken.
So standen wir noch eine Weile zusammen und die Gassen begannen bereits, sich zu leeren. In großen Gruppen zogen die Schweizer zu ihren Bussen ab. Die Studenten diskutierten, wohin man noch gehen konnte. Einer fragte auch Chalil, ob er noch mitkomme, aber, wie mir schien, ohne große Hoffnung.
»Vielen Dank«, antwortete Chalil, »aber ich muss noch Besorgungen machen.« Er lächelte. »Geschenke für meine Familie kaufen.«
»Wann fliegst du denn?«, fragte mein Vater. Er duzte Chalil, anders als dessen Kommilitonen. Immerhin hatte mein Vater drei Monate lang im Palast von Chalils Vater an den Stränden von Dubai verbracht. Und weder im Arabischen noch im Englischen, der zweiten Landessprache Dubais, gab es die Sie-Form. Ich erinnerte mich plötzlich, dass mein Vater und Jutta Chalil auch einmal zu uns nach Hause zum Essen eingeladen hatten. Ich war nur nicht da gewesen. Ich hatte irgendetwas Wichtiges mit Meike und Nele vorgehabt, an das ich mich nicht mehr erinnerte. Ich Närrin! Ich Dödel!
»Übermorgen«, antwortete Chalil.
Oh Gott! Übermorgen schon! Und wieder trafen sich unsere Blicke. Seiner war prüfend und wandte sich sofort wieder ab. Ich fühlte mich erröten. Hoffentlich merkte es keiner. Bei dem Licht glühten eh alle irgendwie rot. Doch bestimmt hatte Chalil trotzdem längst gemerkt, dass ich ihn anstarrte. Das wird nichts, sagte ich mir, das funktioniert nicht. Der ist nichts für dich. Schlag ihn dir aus dem Kopf. Lass ihn fliegen und Schluss. Doch würde ich ihn nicht wahrscheinlich sogar wiedersehen, wenn wir nach Dubai kamen, um meinen Vater zu besuchen. Hoffentlich! Was für ein Glück, dass wir diese Reise längst geplant hatten. Was für wunderbare Aussichten auf einmal wieder. Doch was, wenn Chalil mir dann die kalte Schulter zeigte? Ich hatte mich wirklich verknallt! Dabei kannte ich ihn erst ein paar Minuten. Ging es ihm auch so?
Eine letzte Probe musste sein. Ich wandte mich an meinen Vater. »Fahr du schon mal heim. Ich habe vorhin nicht gefunden, was ich gesucht habe, ich muss noch mal los. Und vielleicht gehe ich dann noch bei Meike vorbei.«
»Ist recht«, antwortete er.
Damit musste Chalil klar sein, dass auch ich noch bleiben würde, um etwas einzukaufen. Und nun war es an ihm, sich zu entscheiden. Wenn er uns jetzt die Hände schüttelte und ging, dann hatte ich verloren. Wenn er sich aber scheinbar zufällig in meine Richtung wandte und sich mir anschloss, dann … ja dann! Ich wagte kaum, es zu hoffen. Mir war ganz schlecht vor Anspannung.
Ein allgemeiner Aufbruch bahnte sich an.
»Dann werde ich mal«, wandte sich Chalil nun an meinen Vater und reichte ihm die Hand. »Ich komme morgen auf jeden Fall noch mal ins Institut.«
Meine Hoffnungen fielen senkrecht in den Abgrund. Chalil verabschiedete sich formell von seinen Kommilitonen, nickte mir kurz zu, steckte die Hände in die Manteltaschen und wandte sich nach einem kurzen Zögern – einem Zögern immerhin – von uns ab.
Scheiße!
Ich machte es kurz, denn ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen, gab meinem Vater ein Küsschen auf die Backe und eilte davon, um die nächste Ecke, außer Sicht. Zu besorgen hatte ich nichts. Und eines wurde mir auch klar: Nach Dubai würden mich keine zehn Pferde bringen. Das würde ich mir nicht antun. Wenn mich schon eine halbe Stunde mit diesem Chalil an einem Mülltisch neben einer Wurstbraterei derartig in Wallungen und ins Schlingern brachte! Ich konnte mich auf den Kopf stellen, er interessierte sich nicht für mich. Ich war ihm zu … keine Ahnung. Nicht interessant eben, eine Ungläubige, verboten. Punkt, Ende! Abhaken.
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