Der Ruf des Kulanjango
Hamish trieb den Wagen durch die verblassenden weißen Dunstschleier, hinaus in den hellen, klaren Sonnenschein, in eine strahlend blaue Himmelslandschaft.
Er schaltete den Motor ab und wir saßen einfach nur schweigend da und sahen uns um.
Hamish pfiff leise. »So was sieht man nicht alle Tage.«
Die Gipfel der Berge thronten über den nebelverhangenen Tälern wie Inseln in einem weißen Wolkenmeer.
»Bitte helft mir heraus«, bat Jeneba.
Sie war ganz still und runzelte leicht die Stirn.
»Ich möchte gehen«, verkündete sie.
Hamish half ihr aus dem Landrover. Ich reichte ihr die Krücken, aber sie schüttelte den Kopf. »Das muss ich ganz alleine tun.«
Sie breitete die Arme aus, um sich im Gleichgewicht zu halten. Und dann, ganz langsam, machte sie die ersten Schritte, einen Fuß vor dem anderen.
»Du kannst gehen«, rief ich, »du kannst wirklich gehen!«
Sie hielt an, drehte sich zu mir und lächelte das breiteste Lächeln. »Schau, Callum«, sagte sie, »schau, der Marabut hatte recht.«
Jeneba schritt durch das nebelumhüllte Heidekraut auf mich zu. Die Nebelschwaden waberten wie Wellen um ihre Füße.
Sie ging hoch über der Welt durch ein Meer aus weißen Wolken.
»Ich kann ewig weit sehen«, sagte sie. »Die Berge, sie hören überhaupt nicht auf!«
»Versuch’s mal damit.« Ich kippte mein Fernglas aus dem Etui. Ein kleines goldenes Medaillon glitt in meine Hand. Ionas Medaillon. Es lag offen auf meiner Hand und Iona lächelte mich daraus an.
Und plötzlich kam es mir vor, als wäre Iona mit uns hier oben auf dem Berg, als wäre sie schon immer hier gewesen. Ich schloss die Hand um das Medaillon und hielt es fest. Tränen brannten mir in den Augen.
»Hier«, sagte ich und legte das Medaillon in Jenebas Hand. »Meine Freundin hätte gewollt, dass du das besitzt.«
Ich wandte mich ab und drückte meine Augen fest zu, aber die Tränen kamen trotzdem.
Ich hatte Iona versprochen, mich um Iris zu kümmern. Ich hatte mein Bestes versucht. Vor unendlich langer Zeit hatten Iona und ich an diesem Berghang gesessen und Iris dabei beobachtet, wie sie über den See und über das Tal flog. Und nun hatte ich beide verloren.
Ich zuckte zusammen, als Jeneba die Hand auf meine Schulter legte.
»Kulanjango …«, sagte sie.
Ich drehte mich zu ihr um.
»Kulanjango«, sagte Jeneba noch einmal. »Callum, schau! Sie kommt!«
Ich rieb mir die Augen und blickte zuerst durch einen Tränenschleier. Und da, über einem Meer aus weißen Wolken, flog, seine riesigen Schwingen weit ausgebreitet, ein Vogel. Er schwebte über uns und sein schriller Ruf durchbohrte den Himmel.
Aus dem Nebel drunten im Tal drang ein Antwortruf herauf. »Fischadler«, flüsterte ich.
Der Vogel ging in die Schräglage und beschrieb dicht über unseren Köpfen eine Kurve. Ich konnte das Rauschen des Windes hören, der durch sein Gefieder strömte. Ich wusste, das war Iris, ich wusste es einfach.
»Sie ist zurück!«, brüllte ich. »Sie ist zurück!«
Ich rannte unter ihr am Boden entlang und meine Füße flogen über das Gras.
Ich breitete die Arme weit aus, wie Vogelschwingen, und raste in ihrem Schatten hinter ihr her.
Sie flog im weiten Bogen zurück zu uns und rief noch einmal. »Kiii … kiii … kiii.«
Und in diesem einen, flüchtigen Moment blickten ihre leuchtenden, sonnenblumengelben Augen direkt in meine.
Hier kannst du selbst die Route eines Adlers verfolgen: www.dtv-kinderbuch.de/kulanjango
Informationen zum Buch
Eine Freundschaft. Ein Versprechen. Und ein Adler, dessen Überleben alles bedeutet.
Der Fischadler soll ihr Geheimnis bleiben – das beschließen Callum und Iona, als sie das seltene Tier auf Callums Farm entdecken. Einen verzauberten Sommer lang beobachten die beiden Freunde das Adlerweibchen heimlich, bis sie dann doch Hilfe von außen brauchen: Der Adler ist verletzt und muss gerettet werden...
»Eine packende Geschichte über die Liebe zu Tieren und die wunderbare Kraft der Freundschaft.«
WDR 5, Lilipuz
Informationen zur Autorin
Gill Lewis wuchs in Bath auf. Einen Großteil ihrer Kindheit verbrachte sie im elterlichen Garten, wo sie einen kleinen Zoo und eine Krankenstation für Insekten, Mäuse und Vögel unterhielt. Sie studierte Tiermedizin am Royal Veterinary College in London, hat in England und im Ausland gearbeitet und ist viel gereist. Ihr Studium Kreatives Schreiben für junge Leser an der Bath University beendete sie mit einer Auszeichnung für ihr Manuskript ›Der Ruf des
Weitere Kostenlose Bücher