Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
Betrachter erschauern. Myra hatte lange darüber nachdenken müssen, und irgendwann war ihr klargeworden, dass es ihr selbst ähnlich erging wie dem kleinen Mädchen. Oberflächlich war ihre Welt in Ordnung, aber die harte Wirklichkeit sah anders aus.
Myra hatte seit längerer Zeit Ärger mit ihrem Chef gehabt, weil ihre Suche nach der Wahrheit die Verkaufszahlen nicht in die Höhe schnellen ließ, hatte aber nie den Mut aufbringen können, zu kündigen. Vor zwei Tagen hatte sie es endlich getan. Am selben Tag hatte Jerry ihr den Heiratsantrag gemacht, der ihre Gefühlswelt vollkommen durcheinandergewirbelt hatte. Liebte sie ihn wirklich?
Zugegeben, Jerry war ein netter Kerl, der sehr gut aussah. Außerdem war er ein renommierter Arzt. Er besaß ein eigenes Haus im nobelsten Stadtteil, ein großes Auto, und er war hoch angesehen unter seinen Kollegen. Aber irgendetwas fehlte ihm. Myra hatte nie benennen können, was es war, aber sie konnte es an vielen Beispielen ablesen.
Als sie vorgestern, nachdem sie gekündigt hatte, nach Hause gekommen war, hatte ein einziger Blick zu ihrem Freund genügt, um ihr zu zeigen, dass es höchste Zeit war, ihr Leben auch in dieser Hinsicht zu ändern. Zum ersten Mal war ihr der süße Geruch des üppigen Lebens bewusst geworden, das Jerry führte. Und dieser Geruch gefiel ihr ganz und gar nicht. Er würde ihr immer fremd bleiben! Myras Eltern waren nie reich gewesen. Sie stammten aus Deutschland, aus einer kleinen Stadt namens Goslar, wo ihr Vater im Bergbau gearbeitet hatte. Mit drei Jahren war Myra mit ihren Eltern nach Kanada ausgewandert und hatte in der Wildnis von British Columbia eine überaus glückliche Kindheit verlebt. Sie liebte die Natur, dort fühlte sie sich sicher, geborgen und vollkommen. Jerry hingegen saß lieber an seinem Laptop, beschäftigte sich mit seinen Geldanlagen und empfand die Natur als dreckig .
All das hatte Myra deutlich gemacht, dass sie sich nach dem kleinen, einfachen Haus ihrer Kindheit sehnte und nach allem, was sie damit in Verbindung brachte. Sie musste raus aus der Großstadt und eine neue Perspektive finden. Wo könnte ihr das besser gelingen als beim Wandern in ihren geliebten Bergen, mitten in der unberührten Natur, fernab von allen Menschen?
Myra beschloss, nicht länger darüber nachzudenken. Wenn sie den Aussichtspunkt oben am Gipfel, wo sie schon als Jugendliche oft und gern gewesen war, noch vor Mittag erreichen wollte, dann musste sie sich beeilen.
Myra war noch nicht weit gekommen und bückte sich gerade, um sich eine kleine, bunte Eidechse mit merkwürdiger Färbung genauer anzusehen, als sich plötzlich Steine unter ihren Füßen lösten, so dass sie ausrutschte. Erschrocken stieß sie einen Schrei aus, der von den Felsen widerhallte.
Noch mehr Steine lösten sich, doch Myra konnte sich nirgends festhalten. Mitten in einer kleinen Lawine aus Steinen und Felsbrocken rutschte sie schreiend den Abhang hinunter, umgeben von einer dichten Staubwolke, die ihr die Orientierung nahm.
Sie wusste aus Erfahrung, wie gefährlich solche Situationen waren, und sie versuchte, die Arme schützend über den Kopf zu legen. Aber es war schon zu spät. Ein kleiner Stein prallte wie ein Gummiball von einem Felsbrocken ab und traf sie mit solcher Wucht am Kopf, dass sich vor ihren Augen alles zu drehen begann.
Myra wusste, was sie erwartete. Es gab keine Rettung. Sie gab den Kampf mit dem Gestein willenlos auf und fühlte, wie sich ihr Körper in Erwartung des Unwiderruflichen entspannte.
Doch dann fiel sie plötzlich in eine kleine Vertiefung im Boden, und ihre Lebensgeister erwachten aufs Neue. Sie machte sich so klein wie möglich, so dass die Gerölllawine über sie hinwegschoss und den Hang hinunterbrauste bis ins Tal. Wenige Augenblicke später lag wieder friedliche Stille über der Landschaft.
Chad Blue Knife war erst vor kurzem in die Berge seiner Vorfahren zurückgekehrt. Er hatte sein Jurastudium in Toronto abgeschlossen und sich entschieden, seine Kanzlei dort zu eröffnen, wo er seinem Volk mit seinem erworbenen Wissen am besten dienen konnte. Mitmenschen zu helfen machte ihn glücklich, und er fühlte, dass er gerade in Boulder Landing, wo er in der Nähe aufgewachsen war, gute Dienste würde leisten können.
Wie die meisten Bewohner dieser Region war auch Chad tief mit den Traditionen und Wurzeln seines indianischen Volkes verbunden. Er befolgte die alten Sitten, trug sein Haar lang und geflochten, und er suchte oft den Rat
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