Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
aussuchte. Sie wusste nicht, was es war, aber irgendetwas an dem jungen Mann zog sie unwillkürlich an. Etwas, das nichts zu tun hatte mit seiner gutgebauten Gestalt und den breiten Schultern oder mit seinen feinen, aber markanten Gesichtszügen und dem bronzenen Teint.
Myra lauschte der Unterhaltung der Männer und verbrachte mehr Zeit als notwendig mit der Zubereitung ihres Tees. Gerade sagte der junge Indianer mit tiefer Stimme: »Du weißt, wie gern ich hier wohne, Tom. Nach einem Abend wie dem gestrigen innerhalb weniger Minuten in die Bergwelt, in die Wildnis eintauchen zu können und wieder zu sich selbst zu finden, das ist etwas ganz Besonderes!«
»Du bist eben ein echter Naturbursche, Chad«, erwiderte der Tankwart lachend.
Myra wunderte sich über den wohligen Schauer, den die Stimme dieses Chad in ihr auslöste.
Als sie wieder einen unauffälligen Blick zu dem jungen Mann hinüberwerfen wollte, stellte sie enttäuscht fest, dass er verschwunden war. Erleichtert und verwirrt zugleich nahm sie ihren Teebecher und den Muffin und drehte sich zur Kasse um. Sie war so sehr in Gedanken versunken, dass sie die Person, die sich neben sie gestellt hatte und die sich auch etwas Heißes eingoss, gar nicht bemerkte und mit ihr zusammenstieß. Es war der junge Mann, dieser Chad, der sich eben mit dem Tankwart unterhalten hatte!
»Es tut mir sehr leid«, sagte Myra verlegen und errötete leicht.
»Schon gut, es ist ja nichts passiert«, erwiderte er.
Chad wollte den Blick schon abwenden, als ihn etwas im Gesicht der unbekannten jungen Frau zwang, genauer hinzusehen. Ihr kleines, ovales Gesicht war umgeben von langen hellbraunen Haaren, die ihr offen über die Schultern fielen. Sie war hübsch, so viel stand fest. Doch es war der Glanz in ihren Augen, der ihn mehr als alles andere in Bann zog.
Ihre Blicke trafen sich, und einen kurzen Augenblick lang sah Chad nur noch Myras Augen, deren warme braungrüne Farbe ihn an das weiche Moos des Waldbodens erinnerte.
Myra verlor sich in der Tiefe von Chads Blick, so dass sie beinahe vergaß, wo sie sich befand. Sie errötete noch mehr, löste sich aber schließlich mit all ihrer Willenskraft von dem Blick des jungen Mannes und wandte sich zur Kasse.
Was war nur los mit ihr? Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie leicht glauben können, dass sie diesen Chad schon seit ewigen Zeiten kannte.
Myra bezahlte hastig, ging zu ihrem Wagen zurück und machte sich auf den Weg zum Thunder Mountain.
Einige Stunden später hielt Myra am Hang des Thunder Mountain an, um Atem zu schöpfen, und ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. Vor ihr lagen die unzähligen Bergspitzen der Coast Mountains – eine Landschaft frei von jeglicher Zivilisation. Die späte Junisonne nahm dem Wind sogar hier oben, mehr als zweitausend Meter über dem Meeresspiegel, die Kühle und blies Myra den zarten Duft der kleinen Bergblumen, die zu dieser Jahreszeit die Hänge schmückten, ins Gesicht. Dieser Blütenzauber würde nicht lange dauern, denn die Jahreszeiten wechselten hier oben nicht so regelmäßig wie anderswo. Frühling, Sommer und Herbst blieb nur eine kurze Zeitspanne, die aus wenigen Monaten bestand, dann eroberte der Winter sich sein Reich zurück.
Jetzt aber lag die Berglandschaft in ihrer ganzen vorsommerlichen Pracht vor ihr und brachte Myras Herz zum Singen. Wie sehr hatte sie das alles vermisst!
Liebevoll betrachtete sie jeden kargen Felsen, jeden knorrigen Busch und jede kleine Blume, die sich ihr zeigten. Hier und da richtete sich auf einem der zahllosen Steine ein Murmeltier auf und ließ seinen ulkigen Pfiff hören. Vom Himmel ertönte der verlorene Schrei eines Raubvogels, und ein Schwarm winziger blauer Schmetterlinge tanzte über den Blüten.
Es war richtig gewesen, hierherzukommen! Myras Herz schlug noch immer für die wilden Berge ihrer Heimat, die sie vor einigen Jahren hatte verlassen müssen, weil sie sich in der Großstadt Victoria ihren Lebensunterhalt als Journalistin verdienen musste.
Vor ein paar Tagen hatte sie zufällig das Foto einer Skulptur gesehen. Es handelte sich um die Darstellung eines kleinen Mädchens, das, oberflächlich betrachtet, hübsch und glücklich aussah, das sich in Wirklichkeit aber in einem schrecklichen Gefängnis befand. Der Künstler hatte die obere Hälfte des Körpers lebendig und schön gestaltet, der untere Teil jedoch, der unter einer Platte aus Granit versteckt war, sah verkrampft und abgemagert aus und ließ den
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