Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
Der Fremde
Stadtkurier – Montag, 3. Oktober 1994
Noch immer keine heiße Spur
(sz) – Seit nunmehr zwei Wochen wird der sechsjährige Benjamin Neugebauer vermißt. Trotz intensivster Suchaktionen, unter Einsatz von Hubschraubern und Hundestaffeln, konnte das Kind bis heute nicht gefunden werden. Auch Recherchen im familiären und sozialen Umfeld des Kindes und seiner alleinerziehenden Mutter ergaben bisher keinen Hinweis auf seinen Verbleib. Die Annahme, daß der Sechsjährige einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist, scheint sich allmählich zu bestätigen.
Wie berichtet, verließ der Junge am Montag, dem 19. September, gegen vierzehn Uhr die Wohnung seiner Mutter mit unbekanntem Ziel und kehrte am Abend nicht zurück.
Hauptkommissar Bruno Jäckle von der Kripo Maria Bronn sowie die Ermittlungsbeamten der Sonderkommission des Landeskriminalamts München gaben zu, noch keine heiße Spur zu haben.
Der achtunddreißigjährige deutschstämmige Russe, der zwei Tage nach dem Verschwinden des Kindes festgenommen worden war, befindet sich mittlerweile wieder auf freiem Fuß. Obwohl sich der Mann, wie Zeugen bestätigten, auffallend oft in der Nähe von Schulen, Kindergärten und Spielplätzen aufgehalten hat, konnten ihm die ermittelnden Beamten keine Schuld im Zusammenhang mit dem Verschwinden des kleinen Benjamin nachweisen.
Die Bürger unserer Stadt sind äußerst beunruhigt. Es stellt sich die Frage, was Kommissar Bruno Jäckle und seine Beamten zu tun gedenken, um die Sicherheit unserer Kinder zu gewährleisten.
Die alte Bosenkowa hatte Mühe mit der leicht ansteigenden Straße, die hinaus zur Neubausiedlung führte. »Schuldenhügel« hieß die Ansammlung schmucker Eigenheime am Ziegeleiberg im Volksmund. Aber der Volksmund war ihr nicht geläufig, denn es gab wenige Menschen, die mit ihr sprachen, und wenn, dann sicher nicht über Baufinanzierungen.
So ganz paßte sie nicht hierher. Sie trug schwarze, abgetragene Kleidung in mehreren Lagen übereinander, wollene Strümpfe schlotterten um ihre kurzen Vogelbeine. Ein bizarr deformierter Hut und ein schleppender Gang verliehen der Gestalt etwas Hexenhaftes. Sie lebte nicht hier. Ihre Wohnung lag im sechsten Stock eines der wenigen Hochhäuser der Stadt, anfangs lediglich häßlicher, inzwischen verkommener Bausünden aus den sechziger fahren. Die Bosenkowa, die vom Leben noch nie viel erwartet hatte, war glücklich über ihr komfortables Zuhause. Es gab warmes Wasser, Zentralheizung und sogar ein Telefon. Ein eigenes Telefon. Nie wäre ihr der Gedanke gekommen, sich über schlecht schließende Fenster, die schimmelnde Schlafzimmerwand oder den verdreckten, ewig kaputten Aufzug zu beklagen. Nein, sie war sogar recht zufrieden. Die Rente ihres Mannes, der in einem Dorf nahe bei Minsk begraben lag, reichte, wenn auch knapp, ihr Asthma wurde regelmäßig ärztlich behandelt und war zumindest nicht schlimmer geworden, und Kolja hatte Arbeit gefunden. Er war Aushilfsgärtner beim Städtischen Friedhof. Kolja liebte Pflanzen, schon immer.
Beunruhigend war nur, daß sie ihn dort, auf dem Friedhof, nicht angetroffen hatte. Auch nicht im Gewächshaus und nicht in der Kirche des heiligen Michael, wo er manchmal ausruhte.
Blieben noch die Spielplätze. Der neue, saubere, mit den hellen Holzgeräten und dem dichten grünen Rasen lag völlig verlassen da, denn heute war ein kühler Tag. Nur vor den grauen Wohnblocks hinter dem Bahnhof sah man ein paar dunkelhaarige Kinder. Sie kickten mit einer leeren Bierdose zwischen den verrosteten Eisengeräten, die auf dem umzäunten schlammigen Gelände standen.
Die Alte war rasch an ihnen vorbeigegangen. Dunkelhaarige Kinder interessierten Kolja nicht.
Auf ihrem Weg durch die Otto-Schimmel-Straße mußte sie ein paarmal stehenbleiben. Ihr Atem ging flach und rasselnd, die erschlafften Lider drückten schwer auf ihre Augen, wie feuchter Teig. Aber nun hatte sie es fast bis zum Ende geschafft. Vorbei an Reihenhäusern mit einheitlichen Eingangstüren und blühenden Vorgärten, zuletzt ein Garagenhof mit einem Basketballkorb. Auch hier war heute kein Kind zu sehen. Hinter einem Zäun aus naturbelassenem Fichtenholz nickten ihr drei Sonnenblumen zu. Sie hielten Wache vor einem einzeln stehenden, pastellblau gestrichenen Haus mit blendendweißen Fensterläden. Auf dem Wiesenstück zwischen Zaun und Haus wuchsen Spätsommerblumen in bunter Mischung, eine zusammengeklappte Wäschespinne stach in den Himmel, ein
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