Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Erde mit allen ihren Wesen zu retten. Wird er zu früh von seinem Platz entfernt, so wird er das Ungleichgewicht um ein Vielfaches verschlimmern. Die Zeit ist noch nicht reif. Ich werde euch als Zeichen einen weißen Raben schicken. Bis dahin müsst ihr Geduld und Vertrauen haben …« Sie hielt kurz inne. »Hüte den Talisman, beschütze ihn, und zweifle niemals an seinen Kräften. Wenn seine Zeit gekommen ist, wird der Talisman die Menschen in eine Zeit führen, in der das Lachen der Kinder wieder der wichtigste Lebensquell zwischen dem endlosen Blau des Himmels und den grünen Hügeln unserer Erde ist … Du, Myra, hast seine Kräfte gesehen. Der Frieden wird seinen Preis haben, aber er wird kommen … Es dauert nicht mehr lang … Bis dahin lebe dein Leben im Zeichen der zwei Raben, und vergiss nicht: Der Schlüssel zu Harmonie, Liebe und Freiheit steckt hier …« Die Weiße Vogelfrau streckte ihre Hand aus und berührte, leicht wie eine Feder, Myras Herz.
    Ein Kribbeln durchflutete Myras Körper. Gleichzeitig verspürte sie eine wohlige Wärme, wie bei der liebevollen Umarmung einer Mutter. Sie konnte ihre Gefühle nicht beschreiben. Unendliche Liebe und höchster Respekt waren die Worte, die ihnen am nächsten kamen.
    Überwältigt von dem unerwarteten Ansturm dieser Gefühle, den Blick noch immer auf die Weiße Vogelfrau gerichtet, spürte Myra, dass sich etwas veränderte. Die Konturen der Felswand, vor der die Vogelfrau stand, traten immer deutlicher hervor, während die Gestalt der Weißen Vogelfrau gleichzeitig immer mehr verblasste. Schließlich war nur noch die Felswand um den Höhleneingang zu sehen.
    Myra blickte sich suchend um. Sie entdeckte jedoch nur Chad, der zu ihr herüberblickte.
    Langsam ging sie zu ihm.
    »Hast du sie gesehen?«, flüsterte sie bewegt.
    Er nickte nur.
    »Hast du ihre Worte gehört?«
    Chad schwieg. Als er schließlich antwortete, lag Ehrfurcht in seiner Stimme.
    »Ja, ich habe ihre Worte vernommen.« Er ergriff Myras Hände und blickte ihr tief in die Augen. »Es ist nicht wichtig, wie viel Zeit uns bleibt, ich werde mein Bestes tun, um das Gleichgewicht zu bewahren, von dem die zwei Raben sprechen. Es ist nie zu spät.«
    »Wenn sich immer mehr Menschen an das erinnern, was die zwei Raben uns sagen wollen«, fügte Myra mit stockender Stimme hinzu, »dass sie sich selbst nicht so wichtig nehmen sollen, dass ihnen das Wohl des Nächsten am Herzen liegen soll, dass sie nicht immer nur nach mehr verlangen, sondern mehr zu geben bereit sind, dann vielleicht darf der Talisman für immer an seinem geheimen Platz bleiben, weil er nicht gebraucht wird … weil die Menschen das von ihnen verursachte Ungleichgewicht selbst wieder ins Lot bringen …«
    »Wir müssen es versuchen«, sagte Chad entschlossen. »Jeder von uns.«
    »Wenigstens wissen wir, wo der Talisman zu finden ist und können seine Kräfte nutzen, sobald die Zeit kommt«, sagte Myra. »Denn irgendwie spüre ich, dass der weiße Rabe nicht lange auf sich warten lassen wird.«
    Chad nahm sie in seine Arme und zog sie behutsam an sich.
    Myra schmiegte sich an ihn, spürte seine Kraft und seine Liebe. Was immer die Zukunft ihnen beiden bringen würde, gemeinsam würden sie alle Schwierigkeiten meistern. Sie fühlte es tief in ihrem Herzen.
    Chad beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie zärtlich.
    Dann lösten sie sich voneinander. Arm in Arm sahen sie hinaus auf die Bergspitzen und die endlosen Wälder, die sich in ihrer wilden Schönheit bis zum Horizont erstreckten.
    Es war genau in diesem Augenblick des vollkommenen Glücklichseins, als Myra plötzlich Trommelschläge und Gesang vernahm. Ihr Herz begann im selben Rhythmus zu schlagen, denn die Melodie war ihr vertraut. Es war Runas Medizinlied, das sie an jenem ihrem letzten Tag vor vielen, vielen Jahren auf ebendieser Bergspitze angestimmt hatte.
    Dieses Lied gehörte nun Myra.
    Erst jetzt erkannte sie, wie einzigartig, wie machtvoll Runa in Wirklichkeit gewesen war. Sie hatte der Welt mit dem Talisman nicht nur ein magisches Symbol hinterlassen, sie selbst war eines geworden. Und ihr Lied war nie verstummt. Es schwebte noch immer über den Bergen, Wäldern, Flüssen und Seen der Wildnis, und es lud jeden, der ein offenes Ohr hatte, dazu ein, seinem Ruf zu folgen.