Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
seltsam bekannt vor. Sie erschauerte.
Myra wartete, bis ihre Augen sich an das fahle Licht gewöhnt hatten. Dann ging sie vorsichtig weiter bis zu der Stelle, wo das Licht von außen so schwach wurde, dass sie nichts mehr erkennen konnte. Vorsichtig streckte sie ihre Hand aus und ließ sie behutsam über die raue Felswand gleiten.
Da war es!
Ihre Hand hatte den Abdruck gefunden, den Runas Hand vor so langer Zeit in der Felswand hinterlassen hatte.
Tränen traten ihr in die Augen.
»Runa«, hauchte sie und legte ihre Hand liebevoll auf deren Handabdruck in der Wand.
Sofort spürte Myra, dass Runa hier war, sie spürte Runas Geist, Runas Kraft – und eine unbestimmte Wärme, die schnell stärker wurde. Schnell löste Myra ihre Hand von der Wand. Sie erkannte, was vor sich ging. Ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen, und ihr Herz klopfte schnell.
Myra wusste nun bestimmt, dass der Fels sich in derselben Weise für sie verändern würde, wie er es damals für Runa getan hatte. Sie musste ihre Hand nur lange genug auf dem Abdruck belassen. Sie konnte den Talisman jederzeit aus seinem Versteck holen! Es war, als hätte der Abdruck in der Felswand all die Jahre nur darauf gewartet, dass sie ihn fand.
In diesem besonderen Augenblick fühlte Myra sich Runa so nahe, wie sie es nur während ihrer Reisen in die Geisterwelt getan hatte. Und für einen kurzen Augenblick kehrte sie zu Runa zurück. Frieden durchflutete Myras Körper und ließ ihr Herz leicht werden.
»Lebe wohl, Runa«, flüsterte sie schließlich. Dann ging sie zurück ans Tageslicht.
Chad saß noch immer an derselben Stelle und genoss die Schönheit und Wildheit der Natur, die ihn umgab.
Als er Myra hörte, drehte er sich zu ihr um. Erstaunt stellte er fest, dass sie nicht allein war. Ein Wesen von unvergleichlicher Schönheit stand an ihrer Seite. Es hatte den Körper einer jungen Frau, und es trug eine Vogelkopfmaske, die die Hälfte des Gesichts bedeckte, und einen Umhang aus strahlend weißen Federn, der vom Kopf bis hinunter auf den Boden reichte. Er war triefend nass, als sei das Wesen gerade erst dem Wasser entstiegen.
Respektvoll senkte Chad sein dunkles Haupt. Er kannte dieses mächtige mythische Wesen nicht nur aus Myras Erzählung über Runas Erlebnisse am Fuße der schwarzen Felswand, kurz bevor sie das Dorf erreichte, sondern auch aus den uralten überlieferten Geschichten seines Stammes und vieler anderer Stämme an der Nordwestküste Kanadas, in denen der Weiße Rabe den Menschen nicht nur Hilfe und Heilung brachte, sondern gleichzeitig Frieden und einen neuen Anfang.
Myra hatte Chad schon fast erreicht, als sie rechts von sich eine leichte Bewegung wahrnahm. Sie sah genauer hin, überzeugt, dass es sich um irgendein kleines Tier handelte, vielleicht um einen Vogel, denn die Bewegung hatte keinerlei Geräusch verursacht. Doch es war jemand ganz anderes. Die Weiße Vogelfrau – Myra nannte sie noch immer bei diesem Namen, weil Runa und Ay’mut es getan hatten – stand plötzlich am Eingang der Höhle, genau dort, wo Myra eben noch vorbeigegangen war und nichts weiter als Felsen gesehen hatte!
Ihr Herz begann zu rasen.
Die Weiße Vogelfrau sah genauso aus, wie sie sie von ihrer Begegnung als Runa in Erinnerung hatte. Und genauso wie Runa ließ auch Myra sich auf die Knie fallen, senkte den Kopf und wartete demütig auf die Worte des magischen Wesens.
»Steh auf, Myra, und sieh mich an«, sagte die Weiße Vogelfrau mit ihrer lieblichen Stimme. Die Worte klangen in Myras Ohren wie die schönste Musik. Zitternd, aber ohne zu zögern, gehorchte sie.
»Du sollst nicht vor mir knien. Du bist mir nicht untertan. Ich habe den Talisman vor langer Zeit aus dem Felsen geschaffen, in dem ich oft weile. Er ist ein Teil von mir. Aber nur zur Hälfte. Die andere Hälfte habe ich meiner Schwester, der Schwarzen Rabenfrau, geschenkt. Geistwesen und Mutter Erde – zusammen verkörpern wir vollkommene Harmonie, zusammen bilden wir ein machtvolles Ganzes. Du, Myra, hast weise und mutig gehandelt. Die Kraft des schwarzen Raben, die Runa vor so langer Zeit anvertraut wurde, ruht nun in dir.«
Myra nahm ihre Worte dankbar auf.
»Vergiss nie die zwei Raben«, fuhr die Weiße Vogelfrau fort, »und die Harmonie, die sie verkörpern … Das Gleichgewicht muss bewahrt werden. Es gibt keinen anderen Weg. Eure Welt hat dieses Gleichgewicht verloren. Wenn die Zeit gekommen ist, wird der Talisman helfen, das Gleichgewicht wiederherzustellen und die
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