Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
eingesperrt gewesen, und vielleicht wird sie sterben, ohne dass …«
Seine Stimme bricht, und er schaut kurz weg.
»Haben Sie Kinder?«, fragt er fast tonlos.
Bevor Joona ihn anlügen kann, klingelt sein Handy. Er entschuldigt sich und hört Nathan Pollocks sanfte Stimme, die ihm mitteilt, dass Athena Promachos die Verbindung hergestellt hat.
84
Saga legt sich mit dem Rücken zur Kamera an der Decke ins Bett und schält vorsichtig die Silikonhülle um das Glasfasermikrofon ab. Mit kaum wahrzunehmenden Bewegungen versteckt sie es im Hosenbund.
Plötzlich surrt es in der Tür zum Aufenthaltsraum elektrisch – und dann klickt das Schloss. Sie ist offen. Saga setzt sich mit klopfendem Herzen auf.
Das Mikrofon muss möglichst jetzt an einer guten Stelle angebracht werden. Vielleicht bekommt sie nur diese eine Chance, die darf sie nicht verpassen. Bei einer Leibesvisitation würde man sie sofort enttarnen.
Sie weiß nicht, wie der Aufenthaltsraum aussieht, ob die anderen Patienten sich darin aufhalten, ob es Kameras gibt.
Vielleicht ist dieser Raum nichts anderes als eine Falle, in der Jurek Walter auf sie wartet.
Nein, von ihrem Auftrag kann er nichts wissen.
Saga wirft die Silikonreste in die Toilette und zieht ab, geht anschließend zur Tür, öffnet sie ein wenig und hört ein rhythmisches dumpfes Pochen, fröhliche Stimmen aus einem Fernsehapparat und ein wischendes, säuselndes Geräusch.
Sie ruft sich die Ratschläge in Erinnerung, die Joona ihr gegeben hat, und zwingt sich, zum Bett zurückzukehren und sich zu setzen.
Sei nicht übereifrig, denkt sie. Tue nichts, wenn du keinen konkreten Anlass, keinen Grund dazu hast.
Durch den Türspalt hört sie Musik aus dem Fernseher, das Rauschen des Laufbands und schwere Schritte.
Ab und zu spricht ein Mann mit schneidender, gestresster Stimme, bekommt aber keine Antwort.
Beide Patienten sind da.
Saga weiß, dass sie das Mikrofon anbringen muss.
Sie steht auf, geht zur Tür, bleibt einen Moment stehen und versucht, ruhig zu atmen.
Der Duft von Rasierwasser steigt ihr in die Nase.
Sie legt die Hand auf die Klinke, atmet tief durch, öffnet ihre Tür ganz, hört das rhythmische Klopfen deutlicher und macht mit gesenktem Kopf zwei Schritte in den Aufenthaltsraum hinein. Sie weiß nicht, ob sie beobachtet wird, gibt den anderen aber für alle Fälle einen Moment, um sich an sie zu gewöhnen, ehe sie aufblickt.
Ein Mann mit einer bandagierten Hand sitzt auf der Couch vor dem Fernseher, und ein anderer geht mit großen Schritten auf dem Laufband. Der Mann auf dem Laufband kehrt ihr den Rücken zu, aber obwohl sie nur Rücken und Nacken sieht, weiß sie, dass er Jurek Walter ist.
Er geht mit schweren Schritten, deren dumpfe, rhythmische Laute durch den Raum hallen.
Der Mann auf der Couch rülpst und schluckt mehrmals, wischt sich Schweiß von der Stirn und beginnt, nervös ein Bein auf und ab wippen zu lassen. Er ist übergewichtig, etwa vierzig Jahre alt, hat schüttere Haare, einen blonden Schnäuzer und trägt eine Brille.
»Obrahiim«, murmelt er mit Blick auf den Fernseher.
Sein Bein hüpft auf und ab, und auf einmal zeigt er auf den Bildschirm.
»Da ist er«, sagt er in den Raum hinein. »Ich würde ihn zu meinem Sklaven machen, meinem Skelettsklaven. Oh, verdammt … guck dir diese Lippen an … ich würde …«
Als Saga durchs Zimmer geht, sich in die Ecke stellt und auf das Fernsehbild schaut, verstummt er abrupt. Es ist eine Wiederholung der Eiskunstlaufeuropameisterschaften in Sheffield. Die Qualität von Bild und Ton werden durch das Panzerglas gemindert. Sie spürt, dass der Mann auf der Couch sie ansieht, begegnet seinem Blick jedoch nicht.
»Als Erstes würde ich ihn auspeitschen«, fährt er zu Saga gewandt fort. »Ihm richtig Angst einjagen wie einer Hure … oh, verdammt …«
Er hustet, lehnt sich zurück, schließt die Augen, als würde er das Abklingen eines Schmerzes abwarten, tastet fahrig über seinen Hals und liegt dann still und keucht.
Jurek Walter geht weiter mit großen Schritten auf dem Laufband. Er wirkt größer und kräftiger, als sie ihn sich vorgestellt hat. Neben dem Band steht in einem Blumentopf eine Plastikpalme, deren staubige Blätter im Takt der Schritte wippen.
Saga schaut sich nach einer geeigneten Stelle für das Mikrofon um, der möglichst weit vom Fernseher entfernt sein sollte, damit das Abhören nicht durch andere Stimmen erschwert wird. Es hinter der Couch zu platzieren würde naheliegen, aber
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