Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
Himmel über der Sankt Pauls-Kirche hinauf.
»Verdammt«, murmelt sie und ruft die Nummer noch einmal an.
Saga wartet im Schnee, bis sich die Kinderstimme ein zweites Mal meldet.
»Hallo Pellerina«, sagt sie gefasst. »Ich würde gerne mit Lars-Erik sprechen.«
»Und mit wem spreche ich bitte?«, fragt das Mädchen altklug.
»Ich heiße Saga«, flüstert sie.
»Ich habe eine große Schwester, die Saga heißt«, sagt Pellerina, »aber ich bin ihr noch nie begegnet.«
Saga kann nichts erwidern. Sie hat einen dicken Kloß im Hals. Sie hört, dass Pellerina den Hörer weiterreicht und sagt, Saga wolle mit ihm sprechen.
»Lars-Erik«, sagt eine vertraute Stimme.
Saga atmet tief durch und denkt, dass es jetzt für alles außer der Wahrheit zu spät ist.
»Vater, ich muss dich etwas fragen … als Mama starb … wart ihr zwei da verheiratet?«
»Nein«, antwortet er. »Wir hatten uns zwei Jahre zuvor scheiden lassen, als du fünf warst. Sie erlaubte mir danach nicht, dich zu sehen. Ich hatte einen Anwalt eingeschaltet, der mir helfen sollte …«
Er verstummt, und Saga schließt die Augen und versucht, nicht zu zittern.
»Mama hat gesagt, du hättest uns verlassen«, sagt sie. »Sie meinte, du könntest ihre Krankheit nicht mehr ertragen, du wolltest mich nicht mehr haben.«
»Maj war krank, psychisch krank, sie litt an einer bipolaren Störung und … es tut mir so leid, dass du darunter leiden musstest.«
»Ich habe dich an jenem Abend angerufen«, sagt sie mit verlorener Stimme.
»Ja«, bestätigt ihr Vater seufzend. »Deine Mutter hat dich immer wieder gezwungen, mich anzurufen … Sie rief selber auch jede Nacht an, dreißig Mal, manchmal auch öfter.«
»Das wusste ich nicht.«
»Wo bist du? Sag mir, wo du bist. Ich könnte dich abholen …«
»Danke, Papa, aber … Ich muss jetzt einen Freund besuchen.«
»Und danach?«, fragt er.
»Ich rufe dich an.«
»Bitte tu das, Saga«, sagt er.
Sie nickt, geht durch das Schneegestöber zur Hornsgatan und hält ein Taxi an.
Saga wartet am Empfang des Karolinska-Krankenhauses. Joona Linna liegt nicht mehr auf der Intensivstation, sondern ist in ein kleineres Krankenzimmer verlegt worden. Sie geht zu den Aufzügen und denkt an Joonas Gesicht nach Disas Tod.
Bei ihrem letzten Besuch hatte er nur eine einzige Bitte: Jurek Walters Leiche zu finden und sie ihm zu zeigen.
Sie weiß, dass sie Jurek getötet hat, wird Joona nun aber trotzdem erzählen müssen, dass die Polizeitaucher tagelang unter dem Eis gesucht haben, ohne seine Leiche zu finden.
Die Tür zum Krankenzimmer in der achten Etage steht halb offen. Saga bleibt im Flur stehen, als sie eine Frau sagen hört, dass sie eine Wärmedecke holen werde. Im nächsten Moment kommt eine lächelnde Krankenschwester in den Flur hinaus und dreht sich dann noch einmal in das Zimmer um.
»Sie haben sehr interessante Augen, Joona Linna«, sagt sie und geht.
Saga bleibt stehen und schließt eine Weile ihre brennenden Augen. Dann geht sie zu der geöffneten Tür, betritt das Zimmer und bleibt in dem Sonnenlicht stehen, das durch das schmutzige Fenster hereinfällt.
Saga starrt das leere Bett an und geht weiter. Der Infusionsschlauch hängt blutig am Ständer und schwingt noch hin und her. Eine Armbanduhr mit gesprungenem Glas liegt auf dem Fußboden, aber das Zimmer ist leer.
Fünf Tage später veröffentlichte die Polizei eine Suchmeldung, aber Joona Linna blieb verschwunden und sechs Monate später wurde die Suche nach ihm eingestellt. Nur Saga Bauer suchte weiter, denn sie wusste, dass er nicht tot war.
Über die Autoren
LARS KEPLER ist das Pseudonym von Alexandra Coelho Ahndoril und Alexander Ahndoril. DER HYPNOTISEUR , ihr Krimidebüt, war sensationell erfolgreich. Es wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und hat in vielen Ländern die Bestsellerlisten gestürmt.
DER SANDMANN , der vierte Kriminalroman mit Kommissar Joona Linna, setzt die Erfolgsgeschichte fort. Das Buch führte in Schweden wochenlang die Bestsellerliste an.
Das Ehepaar lebt mit seinen Kindern in Stockholm.
www.larskepler.com
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