Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
sie also an ihrem Einsatzort angekommen, und ihr Auftrag hat begonnen. Als ihr der Ernst dieses Momentes bewusst wird, stellt sich ein flaues Gefühl im Magen ein, und es kribbelt in Armen und Beinen. Sie weiß, dass sie eine schwer bewachte Patientin ist und dass sich der Serienmörder Jurek Walter in ihrer unmittelbaren Nähe aufhält.
Sie kauert sich auf der Seite liegend zusammen, rollt sich dann auf den Rücken und starrt in die Kamera an der Decke. Sie hat die Form einer Halbkugel, ist schwarz und glänzt wie das Auge einer Kuh.
Es ist lange her, dass sie das Mikrofon verschluckt hat, und sie traut sich nicht, noch länger zu warten. Sie darf nicht zulassen, dass das Mikrofon im Zwölffingerdarm verschwindet. Als sie zum Wasserhahn geht und trinkt, kehren ihre starken Magenschmerzen zurück.
Saga atmet langsam, geht vor dem Bodenabfluss auf die Knie, wendet der Kamera den Rücken zu und stopft sich zwei Finger in den Hals. Sie erbricht das Wasser, presst die Finger tiefer hinab, würgt schließlich die kleine Kapsel mit dem Mikrofon hoch und verbirgt sie schnell in ihrer Hand.
83
Die geheime Ermittlungsgruppe Athena Promachos lauscht, seit Saga Bauer vor zwei Stunden im Löwenströmschen Krankenhaus angekommen ist, ihren Magengeräuschen.
»Wenn jetzt einer reinkäme, würde er uns für eine esoterische Sekte halten«, bemerkt Corinne schmunzelnd.
»Das hört sich wirklich ziemlich gut an«, stimmt Johan Jönson ihr zu.
»Entspannend«, meint Nathan Pollock lächelnd.
Die ganze Gruppe hat die Augen halb geschlossen und lauscht den sanft blubbernden und zischenden Lauten.
Plötzlich ertönt ein Brüllen, das die großen Lautsprecher fast platzen lässt, als Saga das Mikrofon erbricht. Johan Jönson wirft vor Schreck seine Cola-Dose um, und Nathan Pollock zuckt zusammen.
»Jetzt sind wir jedenfalls wach«, sagt Corinne lächelnd, und ihr Jadearmband klimpert angenehm, als sie sich mit dem Zeigefinger über die Augenbraue streicht.
»Ich rufe Joona an«, sagt Nathan.
»Gut.«
Corinne Meilleroux klappt ihr Notebook auf und notiert den Zeitpunkt im Logbuch. Corinne ist vierundfünfzig Jahre alt und französisch-karibischer Herkunft. Sie ist schlank und trägt ausnahmslos maßgeschneiderte Kostüme mit einem Seidenhemd unter dem Jackett. Ihr Gesicht ist ernst, sie hat markante Wangenknochen und schmale Schläfen. Ihr schwarzes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar ist im Nacken stets mit einer Haarspange hochgesteckt. Corinne Meilleroux hat zwanzig Jahre für Europol gearbeitet und ist seit sieben Jahren für den schwedischen Staatsschutz in Stockholm tätig.
*
Joona steht im Krankenzimmer vor Mikael Kohler-Frost. Reidar sitzt auf einem Stuhl und hält die Hand seines Sohns. Vier Stunden lang haben sich die drei unterhalten und versucht, neue Details zu finden, die auf den Ort hindeuten könnten, an dem Mikael mit seiner Schwester gefangen gehalten wurde.
Es ist nichts Neues dabei herausgekommen, und Mikael sieht sehr müde aus.
»Du musst schlafen«, sagt Joona.
»Nein«, widerspricht Mikael.
»Nur ein bisschen«, sagt der Kommissar lächelnd und stoppt die Aufnahme.
Mikaels Atemzüge sind bereits schwer und regelmäßig geworden, als Joona eine Zeitung aus seiner Manteltasche zieht und vor Reidar ausbreitet.
»Ich weiß, dass Sie mich gebeten haben, es nicht zu tun«, sagt Reidar und sieht Joona in die Augen. »Aber wie sollte ich mich selbst ertragen können, wenn ich nicht alle Hebel in Bewegung setzen würde?«
»Ich kann Sie ja verstehen«, gibt Joona zu, »aber das könnte Probleme geben, darauf müssen Sie von nun an gefasst sein.«
Felicias Bild füllt eine ganze Seite der Zeitung. Es wurde bearbeitet, um zu zeigen, wie sie inzwischen aussehen könnte. Eine junge Frau, die Mikael ähnelt, mit hohen Wangenknochen und dunklen Augen. Ihre schwarzen Haare hängen zerzaust um ihr blasses, ernstes Gesicht.
Unter dem Bild steht in großen Lettern, dass Reidar eine Belohnung von zwanzig Millionen Kronen für Hinweise zahlt, die dazu führen, dass Felicia gefunden wird.
»Es kommen schon jede Menge Mails und Anrufe«, erklärt Joona. »Wir versuchen, allem nachzugehen, aber … Die meisten meinen es sicher gut, sie glauben wirklich, etwas gesehen zu haben, aber es gibt auch viele, die einfach nur hoffen, reich zu werden.«
Reidar faltet die Zeitung bedächtig zusammen, murmelt etwas vor sich hin und blickt dann auf.
»Joona, ich tue wirklich alles, ich … Meine Tochter ist so lange
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