Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
Krankenhaus, obwohl es Abend geworden ist. Er will sich ein Bild von seiner dritten Patientin machen, der jungen Frau.
Sie kommt direkt aus dem Krankenhaus Karsudden und scheint kein Interesse an Kontakten zum Personal zu haben. Wenn man das gerichtspsychiatrische Gutachten bedenkt, sind die Medikamente, die sie bekommt, ausgesprochen zurückhaltend dosiert worden.
Leif ist heimgegangen, eine untersetzte Frau namens Pia Madsen übernimmt die Nachtwache. Sie spricht nicht viel, sitzt die meiste Zeit nur da, liest Kriminalromane und gähnt.
Anders Rönn ertappt sich dabei, wieder die neue Patientin auf dem Bildschirm zu beobachten.
Sie ist wunderschön. Am Tag hat er sie so lange angestarrt, bis seine Augen ganz trocken waren.
Sie gilt als gefährlich und fluchtbereit, und die Verbrechen, für die sie verurteilt worden ist, sind grauenvoll.
Wenn Anders sie jetzt ansieht, kann er einfach nicht glauben, dass es wahr ist, was in den Akten über sie steht, obwohl ihm natürlich klar ist, dass es stimmen muss.
Sie ist so zierlich wie eine Balletttänzerin, und der rasierte Schädel lässt sie sehr verletzlich wirken. Vielleicht hat es an ihrer Schönheit gelegen, dass man ihr im Krankenhaus Karsudden nur Decentan und Stesolid verabreicht hat.
Nach der Besprechung mit der Krankenhausleitung hat Anders im Sicherheitstrakt fast die Befugnisse eines Oberarztes erhalten.
Bis auf Weiteres ist er für die Patienten verantwortlich.
Er hat sich mit Doktor Maria Gomez von Station 30 besprochen. Normalerweise wartet man während einer Beobachtungsphase ab, aber eigentlich könnte er auch jetzt schon zu ihr hineingehen und ihr Haldol spritzen. Bei dem Gedanken kribbelt es in seinem Bauch, und er wird von einer seltsamen Vorfreude erfüllt.
Pia Madsen kommt von der Toilette zurück. Ihre Lider sind halb geschlossen. Unter ihrem Schuh klebt ein langer Streifen Toilettenpapier, den sie hinter sich her schleift. Mit schlaffem Gesicht und schlurfenden Schritten nähert sie sich.
»So müde bin ich nun auch wieder nicht«, sagt sie lachend und begegnet seinem Blick.
Sie löst das Papier vom Schuh, wirft es in den Müll, setzt sich neben ihn auf den Platz vor den Bildschirmen und schaut auf die Uhr.
»Möchtest du ihnen ein Wiegenlied singen?«, fragt sie, ehe sie über den Computer das Licht in den Zimmern der Patienten löscht.
Das Bild der drei Patienten hängt noch einen Moment auf Anders Rönns Netzhaut. Unmittelbar bevor es dunkel wurde, lag Jurek Walter bereits auf dem Rücken in seinem Bett, Bernie saß auf dem Fußboden, die bandagierte Hand an die Brust gepresst, und Saga saß auf der Bettkante und sah ebenso brutal wie zerbrechlich aus.
»Sie gehören schon zur Familie«, meint Pia gähnend und öffnet ihr Buch.
91
Um neun Uhr wird das Licht gelöscht. Saga sitzt auf der Bettkante. Das Mikrofon steckt wieder in ihrem Hosenbund. Bis es ihr gelungen ist, es im Aufenthaltsraum anzubringen, ist es am sichersten, es am Körper zu tragen. Ohne das Mikrofon ist der ganze Auftrag sinnlos. Sie wartet, und nach kurzer Zeit taucht in der Dunkelheit ein graues, schwebendes Rechteck auf. Es ist die dicke Glasscheibe in der Tür. Als noch etwas Zeit vergangen ist, zeichnen sich als schemenhafte Landschaft die Formationen ihres Zimmers ab. Saga steht auf und geht in die dunkelste Ecke, legt sich auf den kalten Fußboden und beginnt, Sit-ups zu machen. Nach dreihundert rollt sie herum, streckt vorsichtig die Bauchmuskeln und macht Liegestütze.
Plötzlich hat sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Etwas hat sich verändert. Sie hält inne und blickt auf. Die Glasscheibe ist dunkler als vorher. Schnell fahren ihre Finger zum Hosenbund und ziehen das Mikrofon heraus, das ihr jedoch hinfällt.
Sie hört Schritte und Bewegungen und ein metallisches Scharren an der Tür.
Hastig wischt sie mit den Händen über den Fußboden, findet das Mikrofon und steckt es sich in den Mund, als in derselben Sekunde die Deckenlampe angeht.
»Zum Kreuz«, sagt eine Frau mit strenger Stimme.
Saga ist auf allen vieren und hat das Mikrofon noch im Mund. Langsam steht sie auf und versucht gleichzeitig, in ihrem Mund Speichel zu sammeln.
»Na, wird’s bald?«
Sie geht zögernd zu dem Kreuz, schaut zur Decke und dann wieder auf den Boden hinab. Sie bleibt auf dem Kreuz stehen, kehrt der Tür lässig den Rücken zu und schluckt. Es tut sehr weh, als das Mikrofon langsam hinunterrutscht.
»Wir sind uns heute schon begegnet«, sagt ein Mann mit
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