Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
Gaumen ist fort«, sagt Åhlén und öffnet den Kiefer des Kraniums mit sanfter Gewalt noch etwas weiter. »Aber wenn man mit dem Finger tastet, dann …«
»Hochinteressant«, unterbricht Carlos ihn und schaut auf die Uhr. »Lässt sich abschätzen, wie lange er dort gehangen hat?«
»Das Eintrocknen ist durch die niedrigen Temperaturen sicher verzögert worden«, antwortet der Obduzent. »Aber wenn du dir die Augen ansiehst, dann sind die Bindehäute außer unter den Lidern schnell eingetrocknet. Die pergamentartige Konsistenz der Haut ist überall gleich, außer um den Hals, wo die Schlinge gesessen hat.«
»Wenigstens ungefähr«, sagt Carlos.
»Die postmortale Verwandlung ist ja so etwas wie ein Kalender, eine Art Leben des Todes, ein nach dem Tod im Körper einsetzender Prozess … Und ich würde tippen, Jeremy Magnusson erhängte sich vor …«
»Dreizehn Jahren, einem Monat und fünf Tagen«, ergänzt Joona.
»Gut geschätzt«, sagt Åhlén und nickt anerkennend.
»Die Kriminaltechniker haben mir gerade ein Foto seines Abschiedsbriefs geschickt«, sagt Joona und holt sein Handy heraus.
»Selbstmord«, presst Carlos hervor.
»Alles deutet darauf hin, dass Jurek Walter zu der Zeit auch dort gewesen sein könnte«, sagt Åhlén.
»Jeremy Magnusson stand auf der Liste von Jureks wahrscheinlichsten Opfern«, sagt Carlos langsam. »Und jetzt können wir seinen Tod als Selbstmord abschreiben …«
Etwas, was sich nicht in Worte fassen lässt, flackert durch Joonas Gedanken, als würde das Gespräch eine Assoziation verbergen – er bekommt sie nicht zu fassen.
»Was steht in dem Brief?«, fragt Carlos.
»Er hat sich nur drei Wochen, bevor Samuel und ich seine Tochter Agneta im Lill Jans-Wald fanden, erhängt«, antwortet Joona und sucht das Bild des Abschiedsbriefs heraus, das die Spurensicherung ihm geschickt hat.
Ich weiß nicht, warum ich alles verloren habe, meine Kinder, meine Enkelkinder und meine Frau.
Ich bin wie Hiob, aber ohne glückliche Wende.
Ich habe gewartet, und dieses Warten muss ein Ende haben.
Er nahm sich das Leben in dem Glauben, aller Menschen beraubt worden zu sein, die er jemals geliebt hatte. Wenn er seine Einsamkeit nur noch ein klein wenig länger ertragen hätte, dann hätte er seine Tochter zurückbekommen. Agneta Magnusson lebte noch Jahre, ehe ihr Herz schließlich stehen blieb. Sie lag in einem Pflegeheim und musste rund um die Uhr betreut werden.
89
Reidar Frost hat aus dem Noodle House etwas zu essen bestellt, und die Tüten sind ins Foyer des Söder-Krankenhauses geliefert worden. Dampf steigt von gefüllten Teigtaschen, nach Ingwer riechenden Frühlingsrollen, Reisnudeln mit gehacktem Gemüse und Chili, frittiertem Schweinefilet und Hühnersuppe auf.
Weil er nicht mehr weiß, was Mikael gerne isst, hat er acht verschiedene Gerichte bestellt.
Als er aus dem Aufzug kommt und den Flur hinuntergeht, klingelt sein Handy.
Reidar stellt die Tüten ab, sieht, dass die Nummer des Anrufers unterdrückt ist, und meldet sich schnell:
»Reidar Frost.«
Erst ist es still, dann hört er ein Knirschen.
»Wer ist da?«, fragt er.
Im Hintergrund stöhnt jemand.
»Hallo?«
Er will die Verbindung schon beenden, als jemand flüstert:
»Papa?«
»Hallo?«, wiederholt er. »Wer ist da?«
»Papa, ich bin es«, wispert eine seltsame, helle Stimme. Es ist Felicia. Der Boden scheint unter Reidar zu wanken.
»Felicia?«
Die Stimme ist kaum noch zu verstehen.
»Papa … ich hab solche Angst, Papa …«
»Wo bist du? Bitte, Kleines …?«
Plötzlich hört er ein Kichern, und ihm läuft ein Schauer über den Rücken.
»Kleiner Papa, gib mir zwanzig Millionen …«
Jetzt ist es offensichtlich, dass ein Mann seine Stimme so verstellt, dass sie möglichst hell klingt.
»Gib mir zwanzig Millionen, dann klettere ich auf deinen Schoß und …«
»Wissen Sie etwas über meine Tochter?«, fragt Reidar.
»Du bist ein so verdammt schlechter Schriftsteller, dass es einen wirklich ankotzt.«
»Ja, das bin ich vielleicht … aber wenn Sie etwas über meine Tochter wissen und …«
Die Verbindung wird unterbrochen, und Reidars Hände zittern so sehr, dass er nicht in der Lage ist, die Nummer der Polizei herauszusuchen. Er versucht, sich wieder in die Gewalt zu bekommen, und denkt, er sollte anrufen und von dem Telefonat erzählen, obwohl es nichts bringt und obwohl die Polizei sicher der Meinung sein wird, dass er selber schuld ist.
90
Anders Rönn bleibt im
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