Der sanfte Kuss des Todes
Grunde alles, was er in den letzten zwei Tagen von sich gegeben hat. Jedenfalls haben wir nicht mehr aus ihm herausgebracht – weder seine Mutter noch die Polizei oder unsere Psychologin, die sich mit ihm unterhalten hat. Der Kleine hat eine Heidenangst, daher sind wir ziemlich sicher, dass er etwas gesehen hat. Und deshalb haben wir Sie kommen lassen.«
Fiona starrte auf das Schulfoto und schüttelte den Kopf.
»Glauben Sie etwa, dass Sie es nicht schaffen?«
Sie hob den Blick. Sullivan lächelte sie an.
»Ach, kommen Sie«, sagte er. »Angeblich wirken Sie bei traumatisierten Kindern Wunder. Kann man alles in Ihrer Akte nachlesen. Sie sind ein Star unter den Polizeizeichnern.«
Fiona presste die Lippen aufeinander und sah weg. »Das ist mein letzter Fall. Ich ziehe mich zurück.«
Schweigen breitete sich im Auto aus. Sie hoffte, er würde nicht weiter nachfragen, weil sie keine Lust hatte, ihm ihre Gründe dafür auseinanderzusetzen. Im Moment wollte sie nichts weiter, als ihren Auftrag ausführen und dann das nächste Flugzeug zurück nach Austin nehmen.
Sie sah zu ihm. Sullivan bedachte sie mit einem halb amüsierten, halb zweifelnden Blick.
»Sie wollen sich zurückziehen. Mit dreißig Jahren?«
»Neunundzwanzig.«
Er warf lachend den Kopf zurück, und Fiona straffte ihre Schultern. Sie erwartete nicht, dass er sie verstand. Aber sie schuldete ihm auch keine Erklärung.
»Wer ist zu Hause bei Colter?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
Er wurde wieder ernst. »Mutter und Großmutter.«
»Was ist mit dem Vater?«
»Tödlicher Autounfall unter Alkoholeinfluss vor ungefähr einem Jahr.«
»Okay.«
»Die Mutter hat das Haus seit Montagabend nicht mehr verlassen«, fuhr er fort. »Sie will da sein, falls der Entführer anruft. Sie glaubt, dass Shelby ihr Handy bei sich hat, was bis jetzt allerdings nicht bestätigt werden konnte.«
»Gehört die Mutter zum Kreis der Verdächtigen?«
Er warf ihr einen Blick von der Seite zu. »Mütter sind stets verdächtig.«
»Sie wissen, was ich meine. Verhält sie sich merkwürdig? Irgendwelche Freunde, die auffällig sind?«
»Bislang nichts. Alles, was wir haben, weist auf eine Entführung durch einen Außenstehenden hin.«
Sullivan hatte also Hinweise, die er vor ihr zurückhielt. Das überraschte Fiona nicht. Ihr Job bestand darin, den Ermittlern Informationen zu beschaffen, in erster Linie in Form von Zeichnungen. Die Informationen flossen immer nur in eine Richtung. Bislang hatte sie fast ausschließlich mit Detectives zusammengearbeitet, die ihr immer nur das Nötigste mitteilten, und für ihre Arbeit brauchte sie nun mal nicht viel.
Ein paar gedämpfte Takte Vivaldi ertönten zu Fionas Füßen. Sie zog die Tasche unter ihrem Mantel hervor und kramte darin herum, bis sie ihr Handy gefunden hatte. Auf dem Display erschien wie schon dreimal zuvor an diesem Tag eine Nummer mit der Vorwahl von Texas. Das war bestimmt wieder dieser Detective. Er hatte jedes Mal eine kurze Nachricht hinterlassen und sie um Rückruf gebeten. Sie sollte es endlich hinter sich bringen.
»Fiona Glass«, sagte sie energisch.
»Guten Tag, Ma’am. Ich bin Jack Bowman von der Polizei in Graingerville.« Er hielt inne, als wollte er ihr Gelegenheit geben, etwas zu sagen, zum Beispiel eine Entschuldigung, dass sie nicht zurückgerufen hatte. Aber den Gefallen tat sie ihm nicht.
»Es ist gar nicht so leicht, Sie zu erreichen.«
»Was kann ich für Sie tun, Mr. Bowman?« Fionas Inneres krampfte sich zusammen, sie hatte Angst vor dem, was jetzt mit Sicherheit kam. Es hatte einen Mord gegeben.
Eine Entführung. Ein Vergewaltiger trieb sein Unwesen …
»Nun ja, wir haben hier einen Mordfall und könnten Ihre Hilfe gebrauchen.« Er klang entspannt und sprach mit einem leichten texanischen Akzent. Aber Fiona konnte noch etwas anderes aus der Stimme heraushören, eine eiserne Entschlossenheit, die sie zu dem Schluss kommen ließ, dass der Mann sich nicht so leicht abschütteln lassen würde.
»Tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen, Mr. Bowman, ich bin bereits mit einem anderen Fall beschäftigt.« Sie spürte, dass Sullivan sie bei diesen Worten ansah. »Sie werden sich jemand anderes suchen müssen.«
Schweigen. Die Absage fiel ihr schwerer, als sie gedacht hatte. Sie hielt die Luft an und hoffte inständig, er würde ihr nichts von dem Opfer erzählen.
»Tja, das ist das Problem, Ma’am. Es gibt sonst niemanden.«
Sie räusperte sich. »Versuchen Sie es doch
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