Der Schatten des Schwans
Wie immer die Welt aussah, die Thalmann sich in seinem Kopf zusammengebaut hatte: Jetzt am Ende hatte er einfach getan, was ihm seine Tochter gesagt hatte. Vielleicht, weil sie keine Angst hatte. Oder weil er selbst nicht mehr weiterwusste. Weil ihm Hendriksen-Twienholt als Ziel seiner Rache und seiner fixen Idee von Selbstjustiz abhanden gekommen war.
Wie von ferne hörte er Eisholm reden. Der Münchner Anwalt hatte eine wohlmodulierte Stimme. Das Register war ganz auf Kooperation und Verständnis eingestellt. Auf scheinbare Kooperation.
»Ich brauche Ihnen alten Fahrensleuten nun wirklich nicht zu erklären«, sagte Eisholm, »dass ein Verfahren gegen Anne-Marie Schülin nach diesem Fernsehauftritt so gut wie unmöglich geworden ist. Nicht nur, dass Sie nichts von dem verwenden können, was Sie oder wer auch immer veranlasst haben, dass sie es vor der Kamera sagt.«
Eisholm funkelte sie aus seinen Krähenaugen an. »Es ist schlimmer. Mit dieser inszenierten Hinrichtung vor der Kamera ist ein faires justizförmiges Verfahren schlechterdings unmöglich geworden.«
»Warten Sie es ab«, sagte Berndorf müde und blinzelte in das Deckenlicht. »Dass das Geständnis vor der Kamera nicht verwendet werden kann, habe ich ihr schon vorher gesagt. Aber es gibt noch anderes. Die Gummihandschuhe von Herrn Schülin. Vielleicht wird das Labor des sächsischen Landeskriminalamtes Staub von Tiefenbachs Computertasten auf ihnen finden. Oder von den Türklinken seiner Wohnung.
Und ganz gewiss von den Büchern, die Herr Schülin durchgesehen hat.«
Eisholm unterbrach ihn. »Die er angeblich durchgesehen hat. Nichts von dem, was Sie ankündigen, lieber Herr Berndorf, liegt als Beweis vor, wenn es denn überhaupt als Beweis taugen würde. Eine Verurteilung aufgrund von Bücherstaub, der in Görlitz ein anderer sein mag als in Ulm oder auch nicht: sehr mutig. Aber vielleicht hat der Görlitzer Bücherstaub einen höheren Anteil an Braunkohle, was weiß ich. Nur: Nichts davon können Sie vorlegen. Sie haben buchstäblich nichts in der Hand. Und da wundere ich mich schon. Wenn der Wagen des Herrn Tiefenbach in der Garage meiner Mandanten gestanden hat, wieso haben Sie dann keine Spuren davon gefunden, keinen Reifenabrieb, kein spezifisches Ölgemisch?«
Er neigte ganz leicht seinen graulockigen Kopf und visierte Berndorf lauernd an: »Ich muss Ihnen doch nicht Ihren Job erklären. Angeblich hat Tiefenbach mehrere Tage in dem Haus Schülin verbracht. Wenn das so ist, wieso kann die Ulmer Polizei dann keine Fasern von Tiefenbachs Kleidern vorlegen?«
»Weil wir erst heute Morgen nach diesen Spuren haben suchen können«, sagte Berndorf müde.
Desarts schaltete sich ein. »Vielleicht können wir uns für den Augenblick einigen. Kein Haftbefehl, aber Sie händigen uns die Reisepässe des Ehepaars Schülin aus.«
Eisholm warf einen nachdenklichen Blick auf Desarts. Er wird sich nicht einmal darauf einlassen, dachte Berndorf.
An der Tür zu Desarts Dienstzimmer klopfte es.
Der Staatsanwalt stand unwillig auf und öffnete: »Ich bitte nicht gestört zu werden«, sagte er zu der jungen Frau, die vor ihm stand.
»Tut mir Leid«, sagte Tamar und schob sich entschlossen an ihm vorbei ins Zimmer. Sie hatte eine Plastiktüte in der Hand. Sie ging auf Berndorf zu, grüßte mit einem kurzen Nicken
den Anwalt und holte mit der Hand, über die sie einen Gummihandschuh gezogen hatte, einen Aktenordner aus der Tüte und legte ihn auf den Besprechungstisch.
»Machen wir hier Bescherung?«, fragte Eisholm. Tamar ignorierte ihn.
»Es ist der Ordner mit den privaten Unterlagen von Heinz Tiefenbach«, sagte sie, zu Berndorf gewandt. »Es sind auch Briefe an seine Mutter dabei. Und Zeitungsausschnitte über Twienholt.«
»Glückwunsch, junge Frau«, sagte Eisholm. »Aber sind Sie ganz sicher, dass das etwas mit dem Thema unserer Besprechung zu tun hat?«
»Ich denke schon«, antwortete Tamar und wandte sich ihm zu. »Der Ordner ist in einem Bankschließfach sichergestellt worden, das Eberhard Schülin angemietet hat. Den Schlüssel haben die Neu-Ulmer Kollegen bei seiner Geliebten sichergestellt.«
Sie wandte sich wieder Berndorf zu. »Außerdem hat Rauwolf angerufen. Der Mietwagen, den Schülin in Nürnberg angemietet hat, ist in Görlitz gesehen worden. Dreißig Meter von Tiefenbachs Wohnung entfernt. Einem Zeugen war das Kennzeichen ungewöhnlich vorgekommen. Es war ein bayerisches. Die Leute in Görlitz sind sehr misstrauisch geworden, wenn
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