Der Schatten des Schwans
der Strecke nach Neu-Ulm und Augsburg.
Der Strom für die Fahrleitung war abgeschaltet, und die Männer des Sondereinsatzkommandos Göppingen machten sich daran, die drei Kletterer herunterzuholen.
Mit halbstündiger Verspätung lief der Intercity aus Stuttgart
auf einem Nebengleis ein. Alle anderen Gleise waren blockiert von den Zügen, die nicht weiterkonnten. Auf dem Bahnsteig kam Hannah auf Tamar zu, blass, wie immer schwarz gekleidet und die ungleichen Augen fest und entschlossen. Die beiden Frauen schlossen sich in die Arme. Tamar spürte Hannahs feste Brüste, und ihre Beine begannen zu zittern. Für all so was ist jetzt nicht die Zeit, rief sie sich zur Ordnung.
Yvonne hatte die Kanzlei hinter sich abgeschlossen und war über die Donaubrücke in ihr Appartement im Donau-Hochhaus gegangen. Zuvor hatte Eberhard angerufen und ihr gesagt, sie solle alle Termine absagen. Vermutlich stand seine schreckliche Frau daneben, denn eigentlich musste er wissen, dass es keine Termine gab.
Dann hatte er gesagt, dass Nike entführt worden sei. Und aufgelegt. Yvonne fand das theatralisch. Später hatte sie in den Nachrichten mehr davon gehört. Sie hatte diese hochnäsige, Tennis spielende Barbiepuppe noch nie ausstehen können. Aber natürlich war es eine schreckliche Geschichte. Und sie musste überlegen, wie sie sich Eberhard gegenüber verhalten sollte. Sie musste ihm zeigen, dass sie betroffen war. Und dass sie Anteil nahm.
Sie schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Programme.
In den Nachrichten hatte es geheißen, der Entführer bestehe auf einer Fernsehübertragung. Plötzlich hatte sie das Münster auf dem Bildschirm. Yvonne setzte sich. Die Kamera schwenkte nach unten. Vor dem Münsterportal stand eine Frau, in einen Wintermantel gehüllt. Die Kamera fuhr auf sie zu und zeigte das Gesicht in der Totalen. Sie ist wirklich hässlich, dachte Yvonne voller Genugtuung.
»Ich bin in einem Dorf bei Saulgau aufgewachsen«, sagte die Frau. »Von unserem Haus sagte man nur, dass es die Villa sei, und mein Vater holte mich manchmal im Wagen von
der Schule ab, als noch kaum jemand ein Auto hatte. Mein Vater war groß und klar und streng, und niemand hat ihm widersprochen, ganz gewiss nicht meine Mutter. Sie war Französin, aber sie wollte nicht nach Frankreich zurück. Und sie verbrachte ihr Leben damit, den Haushalt so zu führen, dass mein Vater nichts zu beanstanden hatte. Und wir hatten viel Besuch, Gäste aus der Schweiz, die lange mit Vater in seinem Arbeitszimmer konferierten. Einer hieß Jean-Christoph Toedtwyler, ich sollte Onkel zu ihm sagen, und er brachte mir Schweizer Schokolade mit, als das noch etwas Besonderes war. Aber das wollen Sie nicht wissen, wer immer Sie sind, da oben auf dem Turm.«
Ich will das eigentlich auch nicht wissen, dachte Yvonne. Mit diesem Gerede hilfst du deiner Tochter ganz gewiss nicht aus der Patsche. Und ich hab’ dann den heulenden Eberhard auf dem Hals.
»Als wir nach München und später nach Ulm umgezogen sind«, sagte die Frau auf dem Bildschirm, »lebten wir ein Leben, in dem es keine Schatten gab. Scheinbar keine Schatten. Eines Abends, es war im November, sagte mir meine Mutter, dass es in unserer Familie etwas gebe, das besser verborgen bleibe. Zu jener Zeit wurde mir bewusst, dass sie unglücklich war. Ich wusste noch nicht, dass sie Krebs hatte.«
Die Frau machte eine Pause und schaute um sich. Offenbar wollte sie etwas zu trinken. Die Kamera schwenkte nach oben und zeigte den wolkenverhangenen Turm.
Die Kamera kehrte zu der Frau zurück. »Einmal, ich war 18, fiel mir ein Band der Reiseberichte des Fürsten Pückler in die Hand. Er hatte in England eine reiche Erbin gesucht, um sie zu heiraten und sich seine rechtmäßige Frau künftig als Geliebte zu halten. Pückler war versessen, den vollkommenen Park anzulegen, in Muskau, wo er ein Schloss hatte. Mir fiel ein, dass mein Vater in Muskau geboren war. Ich kam zu ihm und sagte, dass er mir dieses Muskau und seinen Park unbedingt zeigen müsse. Sein Gesicht wurde hart und kalt,
und er sagte, dass dieses Muskau von den Kommunisten zerstört sei. Und dass er nie wieder daran erinnert werden wolle.«
Tamar stieg in den Wagen der Einsatzleitung. Hannah folgte ihr. Berndorf begrüßte sie wortlos mit einer Handbewegung und starrte weiter auf den Monitor. Immerhin rutschte er zur Seite, so dass sich die beiden Frauen neben ihn auf eine Sitzbank setzen konnten.
»Meine Mutter starb«, sagte Anne-Marie
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