Der Schatten des Schwans
Berndorf an der Polizeiführungsakademie dort einen Lehrgang über die neuen Möglichkeiten der DNS-Analyse besucht. »Es ging um den genetischen Fingerabdruck«, sagte Berndorf. »Dass man aus den winzigsten Blutspuren, aus Spucke oder Sperma ein Rasterprofil erstellen kann, das für jeden Menschen einmalig und unverwechselbar ist: das ist ja alles nicht neu. Aber jetzt werden die Leute in den Labors sehr bald noch sehr viel mehr können. Sie werden die Täter ausrechnen.«
»Ich dachte, dieses Rasterprofil wird von DNS-Abschnitten abgeleitet, die keine Erbinformationen enthalten?«, wandte Tamar ein. Sie hatte vor einigen Tagen einen Aufsatz darüber
gelesen. Tamar Wegenast war Kriminalkommissarin und vor anderthalb Jahren nach Abschluss ihrer Ausbildung zur Polizeidirektion Ulm gekommen.
»Das wird behauptet. Damit sich niemand aufregt. Tatsächlich aber erlaubt die Struktur dieser Abschnitte bereits heute Rückschlüsse auf bestimmte genetische Vorgaben. Zum Beispiel darauf, ob jemand die Anlage zu Chorea Huntington hat, zu Veitstanz.«
Tamar schaltete herunter und steuerte in eine Rechtskurve. Das Heck rutschte weg, Tamar beschleunigte und schoss mit dem Wagen aus der Kurve heraus. »Veitstanz?«, fragte sie belustigt.
»Richtig«, antwortete Berndorf. »Ich hab’ auch noch keinen Totschläger mit Chorea Huntington gehabt. Aber das ist nur der Anfang. Sie werden demnächst aus der DNS-Struktur ableiten können, ob ein Täter – sagen wir einmal – rothaarig ist. Wenn wir das wissen, werden wir es auch für die Fahndung verwenden.«
»Und wo ist die Grenze?«
»Da ist dann keine mehr«, antwortete Berndorf. »Wenn in ein paar Jahren, also um 2005 oder 2010, die vollständige genetische Kartierung vorliegt, werden wir ganz selbstverständlich aus dem Speichelrest an einer weggeworfenen Zigarettenkippe das Persönlichkeitsprofil eines Tatverdächtigen ableiten oder sogar Phantombilder von ihm erstellen. Das heißt, ihr werdet das tun. Ich sitze dann irgendwo an der portugiesischen Küste und schaue dem Atlantik zu. ›Der Weltlauf ist mir einerlei, und ich muss mich weder um mein Geld sorgen noch um mein Ansehen. Und wissen muss ich auch nichts mehr.‹ So, ungefähr, beschreibt mein derzeitiger Lieblingsfranzose den hauptsächlichen Vorzug des Alters.« Vor der Fahrt nach Münster war Berndorf in seiner Buchhandlung eine Montaigne-Auswahl in die Hände gefallen.
»Das klingt aber ziemlich trostlos«, wandte Tamar ein. »Noch schlimmer als scheintot.«
»Darum geht es ja«, antwortete Berndorf. »Wer sterben gelernt hat, ist ein freier Mensch. Steht auch bei Montaigne.«
»Ein schöner Satz. Nur sehen unsere Toten meist nicht danach aus.« Tamar mochte es nicht, wenn Berndorf seinen Ruhestandsphantasien nachhing. »Vielleicht hätten sie mehr üben müssen.« Berndorf sagte nichts.
»Noch mal zu der Tagung.« Tamar hatte keine Lust, sich anschweigen zu lassen. »Wenn das stimmt, was Sie sagen, bekommen wir also doch den gläsernen Menschen. Und niemand findet das unheimlich?«
»Doch«, antwortete Berndorf bereitwillig. »Einer der Referenten, ein Israeli, hält das für den Einstieg in einen kriminologischen Rüstungswettlauf. Wenn die Täter damit rechnen müssen, dass sie von jeder Spur überführt werden können, die sich am Opfer findet, dann werden sie dafür sorgen, dass es überhaupt keine Opfer mehr gibt, an denen sich etwas finden lässt. Sie werden sie umbringen und verschwinden lassen. Außerdem hat er gemeint, in den USA würden sie demnächst wohl nach einem Gen suchen, das Menschen zum Verbrecher macht.«
»Wenn sie es finden, hätten wir es ja einfach.«
»Und Kain wäre ein genetischer Unfall gewesen. Wer nicht mit Drogen dealt, ist der von Natur aus bessere Mensch. Es ist nicht so, dass er nicht dealt, weil er das Dealen nicht nötig hat. Er hat die anständigeren Gene. Glauben die Amerikaner. Sie wollen nicht wahrhaben, behauptet Rabinovitch, dass es das an sich Böse gibt. Und dass dieses Böse die Bedingungen erst hervorruft, unter denen Verbrechen entstehen.«
»Rabinovitch?«
»Mordechai Rabinovitch. Der israelische Referent. Wir saßen an einem der Abende noch zusammen in einer Kneipe in Münster.«
»Zwei Bullen reden in der Kneipe über das Böse an sich«, sagte Tamar. »Da hätt’ ich Mäuschen sein wollen.«
»Hauptsächlich haben wir Fußball geguckt«, beruhigte
Berndorf. »Außerdem weiß ich gar nicht, ob er Bulle ist. Er arbeitet am Kriminologischen Institut
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