Der Schatten erhebt sich
« Die Diskussion setzte sich während des ganzen Essens fort und hielt auch noch an, als die letzte Schüssel geleert war. Nachdem sie eine Weile stumm dagesessen, nichts gegessen und anscheinend nicht einmal zugehört hatte, gab sogar Egeanin ein paar treffende Kommentare zur Lage. Sie hatte einen scharfen Verstand, und Thom griff bereitwillig einige ihrer Anregungen auf, auch wenn er andere geradewegs ablehnte - genauso wie bei allen anderen. Selbst Domon unterstützte überraschenderweise Egeanin, als Nynaeve forderte, daß sie schweige. »Sie sein wirklich vernünftig, Frau al'Meara. Nur ein Narr nicht annehmen guten Rat, gleich woher er kommen.« Unglücklicherweise bedeutete das Wissen um den Aufenthaltsort der Schwarzen Schwestern noch gar nichts, solange man nicht wußte, welche Rolle Amathera spielte und was sie eigentlich suchten. Am Ende, nach fast zwei Stunden fruchtloser Diskussion, waren sie sich gerade darüber im klaren und hatten ein paar Ideen, wie man mehr über Amathera herausfinden könne. Und all das hing wieder an den Männern mit ihrem Spinnennetz von Informanten in ganz Tanchico.
Keiner der Männer wollte sie mit einer Seanchan allein lassen, bis Nynaeve zornig genug war, sie alle drei mit Strängen von Luft zu fesseln und zur Tür hinaus zu schieben. »Glaubt Ihr nicht«, sagte sie mit eisiger Stimme, vom Glühen Saidars umgeben, »wir könnten das gleiche mit ihr machen, wenn sie auch nur ›Buh‹ sagt?« Sie ließ keinen von ihnen gehen, bevor er nicht genickt hatte. Mehr als die Köpfe konnten sie allerdings ohnehin nicht bewegen.
»Ihr haltet auf strenge Disziplin bei Eurer Mannschaft«, sagte Egeanin, kaum daß sich die Tür hinter den Männern geschlossen hatte.
»Schweigt, Seanchan!« Nynaeve verschränkte die Arme. Langsam schien sie es sich abzugewöhnen, an ihren Zöpfen zu reißen, wenn sie sich aufregte. »Setzt Euch - und -haltet - den - Mund!« Es war frustrierend, hier zu sitzen und zu warten, die Pflaumenbäume mit ihren fallenden Blüten anzustarren, die auf die fensterlosen Wände gemalt waren oder Nynaeve beim Herumtigern zu beobachten, während Thom und Juilin und Domon draußen waren und wirklich etwas unternehmen durften. Und doch wurde es noch schlimmer, wenn in Abständen immer einer der Männer zurückkam und berichtete, daß wieder eine Spur im Sand verlaufen oder ein Faden gerissen sei, sich schnell nach den Ergebnissen der anderen erkundigte und wieder hinaushastete.
Als Thom das erstemal zurückkam, mit einer neuen blauen Schwellung, diesmal auf der anderen Wange, sagte Elayne: »Wäre es nicht besser, Thom, Ihr bliebt hier und würdet auf die Berichte von Juilin und Meister Domon warten? Ihr könntet das viel besser beurteilen als Nynaeve und ich.« Er schüttelte seinen närrischen, zerzausten, weißen Schopf, während Nynaeve so laut schnaubte, daß man es sicher auf dem Flur hören konnte. »Ich habe eine Spur, die zu einem Haus auf der Verana führt, in das sich Amathera offensichtlich ein paar Nächte vor ihrer Ernennung zur Panarchin zurückzog.« Und er war weg, bevor sie noch ein Wort herausbringen konnte.
Als er das nächstemal zurückkam, humpelte er sichtlich stärker. Er berichtete, das Haus gehöre Amatheras altem Kindermädchen. Elayne riß sich zusammen und sagte in ihrem strengsten Befehlston: »Thom, ich will, daß Ihr euch jetzt hinsetzt. Ihr werdet von nun an hierbleiben. Ich lasse nicht zu, daß Ihr noch stärker verwundet werdet!« »Verwundet?« fragte er. »Kind, ich habe mich nie im Leben wohler gefühlt. Richtet Juilin und Domon aus, daß es angeblich hier in der Stadt eine Frau namens Cerindra gibt, die behauptet, alle möglichen dunklen Geheimnisse aus Amatheras Vergangenheit zu kennen.« Und sofort humpelte er wieder los. Sein Umhang flatterte hinter ihm, so eilig hatte er es. Im Umhang war auch ein neuer Riß zu sehen. Sturer, sturer, närrischer alter Mann!
Einmal drang Lärm durch die dicken Wände: brutales Geschrei und Rufe von der Straße her. Rendra eilte herein, gerade, als Elayne beschlossen hatte, selbst hinunterzugehen und nachzusehen. »Ein paar kleinere Schwierigkeiten draußen. Regt Euch nicht auf, bitte. Bayle Domons Männer halten es von uns fern, ja. Ich wollte nur nicht, daß Ihr euch Sorgen macht.« »Auseinandersetzungen hier draußen?« fragte Nynaeve in scharfem Tonfall. Die unmittelbare Nachbarschaft dieser Schenke war in der letzten Zeit ein Hort der Ruhe gewesen, einer der wenigen in der Stadt.
Weitere Kostenlose Bücher