Der Schatten im Norden
zurückgegangen sein,
denn sie hatte die Kleider gewechselt und trug eine
Handtasche. Am Sonntagabend kam sie spät in Barrow
an und bemerkte immerhin noch so viel von ihrer
Umgebung, dass der Hotelwirt gegenüber der allein
reisenden jungen Dame eine missbilligende Miene
machte. Sie ließ es ihm unkommentiert durchgehen.
Sie ging sofort zu Bett. Sie schlief unruhig, wachte
immer wieder auf und fand ihr Kopfkissen tränennass.
Verwirrt fragte sie sich, ob sie im Schlaf Gefühle haben
könnte, ohne zu wissen, welcher Art sie waren. In der
Frühe trank sie einen Tee, beglich die Rechnung und
machte sich auf den Weg. Die Sonne brach durch graue
Wolken und tauchte die schmutzigen Straßen
vorübergehend in goldenes Licht. Da sie den Weg nicht
kannte, musste sie Leute fragen, doch merkte sie bald,
dass sie die Richtung nicht halten konnte, so dass sie sich
wieder nach dem Weg erkundigen musste. Schließlich
kam sie doch an den Rand der Stadt und blickte auf Axel
Bellmanns Reich, die Schmiede des
Dampfmaschinengewehrs: die North Star-Werke.
Es war ein enges Tal, erfüllt von Feuer und Stahl, vom
Rauch hoher Schloten und vom Klang mächtiger
Hämmer. Im stärker werdenden Sonnenlicht
schimmerten Eisenbahngeleise, die von Süden in das Tal
kamen und es im Norden wieder verließen. Von ihm
zweigten ein Dutzend Nebengleise zu den verschiedenen
Fabrikgebäuden ab. Auf ihnen verkehrten Lokomotiven,
die Kohleloren, Pfannenwagen mit flüssigem Eisen oder
Wagons mit Maschinenteilen zogen. Die Gebäude selber
waren lichte Hallen aus Stahl und Glas, die trotz der
Schlote und Lokomotiven einen filigranen Eindruck
machten. Alles war sauber, hell und neu.
Die ganze Fabrik schien eine große, mächtige Maschine
zu sein --- eine mit Verstand und Willen ausgestattete
Maschine. Und alle Arbeiter, die sie sah, und die
hunderte, die sie nicht sah, schienen keine Individuen,
sondern Rädchen in einem komplizierten Getriebe. Der
Geist, der dies alles bewegte und steuerte, musste in dem
dreigeschossigen Backsteinbau im Mittelpunkt der
Anlage seinen Sitz haben.
Der Bau lag wie ein Kreuz zwischen einer komfortablen
neuen Villa und einem Privatbahnhof. Der Eingang mit
neugotischem Portal ging direkt auf einen Bahnsteig mit
Gleisanschluss. Von dort hatte man einen Blick auf das
ganze Tal. Neben dem Bahnsteig waren Blumenrabatten,
die um diese Jahreszeit unbepflanzt, aber gejätet und
geharkt waren. Auf der anderen Seite der Villa führte
eine Wagenauffahrt zu einem ähnlichen, aber kleineren
Portal und von dort zu einer Remise, wo ein Bedienter
den Kiesweg harkte. Das Gebäude war von einer nackten
Fahnenstange bekrönt. Beim Anblick des geschäftigen
Treibens in dieser Szenerie überkam Sally ein seltsames
Gefühl, als ob Wellen aus dem Zentrum des Bösen
ausgingen und es wie mit einem flirrenden Hitzeschleier
umhüllten. Irgendwo dort unten wurde eine Waffe
gebaut, die schrecklicher war als alles, was die Welt
bisher gesehen hatte. Aber die Macht, die am Ursprung
dieser Waffe war, hatte in ihr Leben eingegriffen, das
Kostbarste, was sie besaß, geraubt und tot vor ihre Füße
geworfen, nur weil sie es gewagt hatte, Fragen zu stellen.
Was es auch war, das solche Macht besaß, es musste
böse sein, und dieses Böse existierte in solcher
Konzentration, dass es fast schon sichtbar war im
Gleißen der Sonne auf den Glasflächen der Fabrikhallen
und auf dem Stahl der Eisenbahngeleise.
So mächtig wurde der Eindruck, dass sie einen
Augenblick lang den Mut verlor. Sie hatte Angst wie
noch nie zuvor - mehr als nur körperlich spürbare, so wie
das Böse mehr ist als eine rein körperliche Empfindung.
Doch sie war hierher gekommen, um sich dem Bösen zu
stellen. Sie schloss die Augen und atmete tief durch, dann
war der Augenblick vorüber.
Sie stand neben einem grasbewachsenen Abhang über
dem Tal. Von dort kletterte sie ein Stück weit abwärts bis
zu einer Baumgruppe, wo sie sich auf einen umgestürzten
Stamm setzte und das Tal genauer in den Blick nahm. Im
Verlauf des Morgens erkannte sie mehr und mehr
Einzelheiten und allmählich auch den Plan, der hinter der
wimmelnden Geschäftigkeit stand. Keine
Rangierlokomotive, auch kein Schlot stieß Rauch aus.
Vermutlich wurde hier ausschließlich Koks verbrannt,
was eine Erklärung für die Sauberkeit des Tals war. Die
drei Kräne, die lange Stahlrohre und Stahlbleche von
offenen Güterwagen luden, schienen aber eine andere
Antriebsart zu haben, vielleicht wurden sie hydraulisch
oder sogar
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