Der Schatten im Norden
elektrisch betrieben. Elektrizität war aber
gewiss die Energie, die für das isolierteste Gebäude der
Anlage benutzt wurde. Kabel führten aus einem kleinen
Backsteinbau dort hinein. Immer wenn eine
Rangierlokomotive einen Zug von Güterwagen brachte,
fuhr sie nicht so nahe heran wie auf dem übrigen
Werksgelände, sondern hielt in einiger Entfernung. Dort
wurden die Wagen von einem anderen Fahrzeug
abgeholt, das offenbar über eine Oberleitung betrieben
wurde. Für das letzte Stück des Weges wurden
Pferdegespanne benutzt, die die Wagen einzeln in das
Gebäude zogen.
In diesem abseits stehenden Gebäude, in dessen Nähe
kein Feuer gebracht werden durfte, wurden sicherlich
Munition und feuergefährliche Stoffe gelagert.
Sie beobachtete alles regungslos und ohne jedes Gefühl,
so als sei sie nur Auge.
Am späten Nachmittag beobachtete sie Anzeichen für
neue Geschäftigkeit in der Villa mit dem Fahnenmast. Im
oberen Geschoss gingen Fenster auf, die im Sonnenlicht
blitzten. An einem war ein Hausmädchen zu sehen, das
wohl mit Staubwischen und Putzen beschäftigt war. Der
Wagen eines Händlers fuhr vor und lieferte etwas an;
Rauch stieg aus zwei Schornsteinen auf; ein weiteres
Hausmädchen, vielleicht aber auch dasselbe wie vorhin,
erschien auf der Treppe und putzte die Messingteile an
der Haustür zur Bahnsteigseite. Gegen Sonnenuntergang
sah Sally schließlich, worauf sie gewartet hatte: Ein
Signal wurde neben der von Süden kommenden
Hauptbahnlinie geschaltet, eine Lokomotive ließ ihren
Pfiff durch das Tal ertönen und fuhr mit einem einzigen
Wagen im Schlepptau durch das Gewirr der
Rangiergleise bis zur Villa. Die Lokomotive gehörte der
Great Northern Company, doch der Waggon war ein
Privatwagen in schönem Dunkelblau und mit einem
silbernen Emblem auf den Türen. Der Privatzug kam am
Bahnsteig der Villa zum Stehen, worauf ein Diener oder
Butler aus dem Haus eilte und die Abteiltür öffnete. Im
nächsten Augenblick stieg Axel Bellmann aus. Seine
hünenhafte Gestalt, das metallische Schimmern seiner
blonden Haare unter dem Seidenhut ließen auch aus der
Entfernung keinen Zweifel zu. Er ging ins Haus, während
hinter ihm ein Dienstmann und ein weiterer Hausdiener
sein Gepäck aus dem Wagen holten.
In der Zwischenzeit war die Lokomotive abgekuppelt
worden und dampfte aus dem Tal. Kurz darauf kam ein
Hausmädchen mit Besen, Kehrschaufel und Putzlappen
und verschwand im Eisenbahnwaggon. Schließlich ging
an der Fahnenstange eine Fahne hoch, die dasselbe
Emblem aufwies, das auch auf der Abteiltür prangte. In
den Strahlen der untergehenden Sonne war es deutlich zu
erkennen: Es war ein einzelner silberner Stern.
Gepäck, Dienstpersonal, ein frisch geputztes Haus... Er
war zu einem längeren Aufenthalt gekommen. Sally hatte
nicht erwartet, dass es so leicht sein würde. Sie fühlte
sich steif. Sie war auch hungrig und durstig, doch das
war nicht so wichtig. Aber steif zu sein, das konnte
Folgen haben. Sie stand auf und vertrat sich im Schutz
der Bäume die Beine. Die Schatten wurden länger, der
Widerschein in den Fenstern schien heller zu werden,
und auch der Ablauf der Arbeit in der Fabrik änderte
sich. Als das Tal ganz im Schatten lag, ertönte eine
Sirene, und kurz darauf sah sie die erste Gruppe von
Arbeitern aus dem Fabriktor strömen und den Heimweg
antreten. In den Teilen des Betriebs, wo rund um die Uhr
gearbeitet wurde, rückte die neue Schicht ein, damit die
Produktion weiterging. Andere Gebäude wurden jedoch
geschlossen, und ein Wachmann bezog draußen seinen
Posten. Das Gelände um das isolierte Gebäude wurde so
hell wie eine Bühne ausgeleuchtet. Die Scheinwerfer
verbreiteten ein gleißendes Licht auf dem weißen
Kiesweg und gaben der ganzen Szenerie ein unwirkliches
Aussehen. Man hätte meinen können, ein Diapositiv in
einer Laterna magica zu sehen. Es wurde allmählich
feucht. Das Gras, in dem Sally ging, war schon nass vom
Abendtau. Sie hob ihre Tasche auf, und ohne es zu
wollen, drückte sie sie schluchzend an die Brust. Sein
friedvolles Gesicht im Regen, in der schwelenden Asche
der Ruine...
Beinahe wäre sie ganz zusammengebrochen, als eine
Welle von Sehnsucht und Kummer, Liebe und Trauer
über sie kam und die Verhärtung aufbrach. Unter dem
Schmerz, der in ihr aufstieg und sie beinahe überwältigte,
rief sie laut seinen Namen. Doch selbst in dieser Lage
hielt sie an ihrem Vorhaben fest, so wie sich ein
Schiffbrüchiger an eine Planke klammert und unter der
über ihn
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