Der Schatten im Norden
hinweggehenden Welle wieder auftaucht.
Sie musste handeln. Sie suchte ihren Weg durch Bäume
und Sträucher und ermahnte sich zur Aufmerksamkeit.
Achte auf diese Wurzel da, hebe den Rock, um nicht an
den Dornen hängen zu bleiben ... Dann hatte sie wieder
die feste Straße erreicht und fühlte sich halbwegs im
Gleichgewicht.
Sie strich ihre Kleider glatt, richtete ihren Umhang und
ging talwärts in die Dunkelheit.
Wie sie erwartet hatte, stand vor dem Tor ein Mann
Wache. Aus der Nähe betrachtet, verblüffte sie die
schiere Größe der Anlage mit den massiven Eisentoren,
dem hohen Stacheldrahtzaun und dem grellen Licht der
Laternen auf den Kieswegen. Die Uniform der Wache
mit Sternenemblem auf Brust und Schirmmütze, die
arrogante Haltung des Mannes, wie er langsam vor dem
Tor auf und ab ging, den kurzen Schlagstock lässig
schwingend, und der abschätzige Blick, den er ihr unter
dem Schirm seiner Mütze zuwarf, alles das jagte ihr
einen kalten Schrecken ein.
»Ich möchte zu Mr. Bellmann«, sagte die durch die
Gitterstäbe des Tores.
»Sie müssen warten, bis ich Anweisung erhalte, Sie
einzulassen«, antwortete er.
»Würden Sie bitte Mr. Bellmann Bescheid geben, dass
Miss Lockhart gekommen ist, um ihn zu sprechen?«
»Ich darf meinen Posten nicht verlassen. Ich habe keine
Anweisung, irgendjemanden einzulassen. « »Dann
schicken Sie ihm eine Nachricht. «
»Ich kenne meine Pflichten. Sie brauchen mich nicht
belehren, Miss. « »Offenbar doch. Schicken Sie Mr.
Bellmann sofort eine Nachricht. Andernfalls werden Sie
es bereuen. « »Ich nehme an, er ist gar nicht da. «
»Ich habe ihn ankommen sehen. Miss Lockhart möchte
ihn sprechen. Lassen Sie ihn das wissen. «
Sie blickte ihn so lange an, bis er sich umdrehte und zu
seinem Wachhäuschen ging. Sie hörte, wie in der Ferne
eine Klingel läutete. Er wartete drinnen. Bald darauf sah
sie ein Licht vom Haus her näher kommen, das sich als
ein Diener mit einer Laterne herausstellte. Als er am Tor
ankam, schaute er Sally verwundert an, ehe er sich mit
dem Wachmann beredete.
Nach einer Minute kamen beide wieder heraus. Der
Wachmann öffnete das Tor und ließ Sally herein.
»Ich möchte Mr. Bellmann sprechen«, erklärte sie dem
Bediensteten. »Könnten Sie mich bitte zu ihm bringen?«
»Bitte folgen Sie mir, Miss. Ich werde sehen, ob Mr.
Bellmann Sie empfangen kann. «
Der Wachmann schloss das Tor hinter ihnen, als Sally
dem Bediensteten auf dem Weg folgte, der zwischen
Maschinenhallen und dem Eisenbahngleis zum Haus
führte. Während sie über den knirschenden Kies gingen,
hörte Sally ein Geräusch aus der Halle zu ihrer Linken,
das wie das Rühren gewaltiger Trommeln klang. Weiter
weg war ein ständiges Pochen zu vernehmen wie der
Pulsschlag eines Riesen, das ab und zu von
Hammerschlägen oder dem Kreischen von Metall auf
Stein unterbrochen wurde. Aus einem abseits des Weges
liegenden Gebäude, dessen Tore offen standen, kam ein
höllischer Feuerschein und Funken stoben, als flüssiges
Eisen ausgegossen wurde.
Jedes einzelne Geräusch tat ihr weh und erschreckte sie.
Sie konnte sie nicht anders als unmenschlich finden, als
Grauen erregender Folterwerkzeuge. Je weiter sie in
diese Welt aus Metall, Feuer und Tod eindrang, desto
kleiner und schwächer fühlte sie sich. Und immer
deutlicher spürte sie, wie hungrig und durstig sie war,
wie sehr ihr Kopf schmerzte und ihre Füße wund
gelaufen waren, wie unordentlich sie aussehen musste,
wie schwach und unpassend für eine solche Begegnung.
Sie hatte einmal vor dem Rheinfall bei Schaffhausen
gestanden und sich vom Anblick der Wassermassen
überwältigt gefühlt. Wäre sie hineingefallen, wäre sie in
der nächsten Sekunde weggerissen worden, so als hätte
sie nie existiert. Jetzt hatte sie das gleiche Gefühl. Dieses
gewaltige Unternehmen, die Finanzmacht, die dahinter
stand, die weit verzweigte Organisation, das geheime
Zusammenspiel mit den Regierungen großer Staaten, das
Leben Tausender, das unmittelbar mit dem Konzern
verknüpft war, alles zusammen stellte ein solch
unendlich größeres Gewicht dar, als sie je in die
Waagschale werfen konnte.
Aber darauf kam es nicht an.
Zum ersten Mal gestattete sie sich, direkt an Fred zu
denken. Was hätte er getan angesichts einer Macht, die
um vieles stärker war als er? Sie wusste die Antwort
sofort: Er hätte kühl seine Chancen abgewogen, und
wenn der andere stärker war, nun, dann wusste er jetzt,
mit wem er es zu tun hatte. Das hätte ihn keinen
Augenblick
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