Der Schatten im Norden
zögern lassen, er hätte gelacht und dennoch
angegriffen. Oh, wie sie diesen jugendlichen Mut liebte!
Keine Tollkühnheit - er war sich stets bewusst, was er
unternahm ---, so als ob er klarer sehe als andere
Menschen. Er wusste stets, was er tun musste --- auch zu
dem, was er im brennenden Haus getan hatte, brauchte es
viel Mut.
Sie wankte schluchzend den dunklen Weg entlang, die
Tasche fest an die Brust gedrückt, Tränen rannen ihr über
die Wangen, während der Bedienstete mit der Laterne ihr
in einigem Abstand voranging. Nach ein oder zwei
Minuten hatte sie sich wieder in der Gewalt, wischte sich
mit dem Taschentuch die Tränen ab und ging weiter.
Ja, sagte sie zu sich selbst, so würde er es machen: die
Chancen abwägen und dann angreifen. Und so wollte sie
es auch machen, denn sie liebte Fred, sie würde es tun,
um sich ihm würdig zu erweisen. Sie würde Bellmann
gegenübertreten, obwohl sie schreckliche Angst hatte.
Sie würde wie Fred keine Angst zeigen, obwohl die
Furcht vor Bellmann gerade jetzt an ihr zehrte. Nur mit
Mühe konnte sie einen Fuß vor den anderen setzen.
Aber sie schaffte es doch. Erhobenen Hauptes, die
Augen noch von Tränen feucht, stieg sie hinter dem
Bediensteten die Stufen hinauf und betrat das Haus Axel
Bellmanns.
Am späten Sonntagmorgen war Jim Taylor mit
brummendem Kopf und einem lähmenden Schmerz im
Bein aufgewacht. Er richtete sich mühsam auf und sah,
dass sein schmerzendes Bein bis zum Knie in einem
Gipsverband steckte.
Wo war er eigentlich? Für einen Augenblick fiel es ihm
schwer, sich an irgendetwas zu erinnern. Dann kam es
langsam in sein Bewusstsein zurück, und er ließ sich in
die weichen Kissen fallen und schloss die Augen, aber
nur für einen Augenblick. Er erinnerte sich, dass
Frederick wieder nach oben gegangen war, um dieses
verrückte Weibsstück Isabel Meredith herunterzuholen.
Weiter erinnerte er sich, dass er sich von Webster oder
Mackinnon oder sonst jemandem losgerissen hatte und
dann Frederick nacheilen wollte. Aber das war alles.
Er richtete sich wieder auf. Er befand sich in einem fast
luxuriös eingerichteten Zimmer, das er nie zuvor gesehen
hatte. Vor dem Fenster stand ein Baum, Verkehrslärm
war zu hören. Wo um alles in der Welt war er gelandet?
»Hallo! Ist da jemand?«, rief er. Er blickte sich um, fand
eine Klingelschnur neben dem Bett und zog heftig daran.
Dann versuchte er seine Beine über die Bettkante zu
bringen, doch der Schmerz war zu heftig. Er rief noch
einmal. »Hallo! Fred! Mr. Webster!«
Die Tür ging auf, und ein stattlicher Herr in Schwarz
kam herein. Jim erkannte ihn, es war Lucas, Charles
Bertrams Butler. »Guten Morgen, Mr. Taylor«, begrüßte
er ihn. »Lucas!«, sagte Jim. »Ist das hier Mr. Bertrams
Wohnung?« »So ist es, Sir. «
»Wie spät ist es? Wie lange bin ich schon hier?« »Es ist
fast elf Uhr, Mr. Taylor. Man hat sie gegen fünf Uhr
morgens hierher gebracht. Sie waren bewusstlos. Wie Sie
sicherlich bemerkt haben, hat der Arzt Ihr gebrochenes
Bein versorgt. « »Ist Mr. Bertram hier? Oder Mr.
Garland? Und Mr. Mackinnon --- wo ist der?«
»Mr. Bertram hilft in der Burton Street, Sir. Wo Mr.
Mackinnon ist, weiß ich nicht. «
»Und was ist mit Miss Lockhart? Und mit Frederick?
Mr. Garland junior, meine ich. Ist er heil
herausgekommen?« Ein Ausdruck des Mitgefühls legte
sich auf die ruhigen Gesichtszüge des Mannes. Jim spürte
so etwas wie eine eiserne Hand, die sich auf sein Herz
legte.
»Mr. Taylor, es tut mir sehr Leid, Ihnen sagen zu
müssen, dass Mr. Frederick Garland bei dem Versuch,
eine junge Dame aus dem brennenden Haus zu retten,
ums Leben gekommen ist... « Für Jim verschwamm das
Zimmer mit einem Mal. Er sank zurück in die Kissen und
hörte noch, wie Lucas leise die Tür schloss. Dann weinte
er, wie er es seit seinen Kindertagen nicht mehr getan
hatte. Der Schmerz überwältigte ihn und brach in tiefen
Schluchzern aus ihm hervor. Dazwischen schrie er seine
Wut heraus, weil er, Jim, hier weinte und weil Bellmann
ungestraft davonkommen sollte --- denn er wusste,
warum Frederick hatte sterben müssen. Bellmann hatte
Frederick getötet, das war so sicher, wie wenn er ihm ein
Messer ins Herz gestoßen hätte. Aber dafür würde er
bezahlen müssen, weiß Gott, da gab es keinen Zweifel.
Wie hatte das nur Frederick passieren können - wo sie
doch so viele Kämpfe glücklich überstanden, gescherzt
und gelacht und sich gegenseitig aufgezogen hatten.
Wieder übermannte ihn der Schmerz und er weinte.
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