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Der Schatten von nebenan - Roman

Der Schatten von nebenan - Roman

Titel: Der Schatten von nebenan - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Saur
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warten. Ich wartete auf Frühstück, Mittag, Abendbrot, auf kalte und weiche Sandwiches und Cracker, einen Apfel oder eine Orange, zerkleinertes Hühnchen oder zermantschtes Rindfleisch, alles farblos und eigenartigerweise ohne Geruch.
    Am Ende meiner ersten Woche in Clinton verwandelten sich die Erinnerungen an das letzte Jahr und die Verhandlung in eine Art Traum. Todestrakthäftlinge arbeiten nicht im Gefängnis, schrauben keine Transistorradios zusammen, zimmern keine Schrankwände, stärken und bügeln keine Hemden. Keiner von uns soll auf die Idee kommen, er könne auf irgendeine Art nützlich sein. Ich verlor mich in dieser Routine, die hauptsächlich aus Warten bestand. Ich wartete traumähnlich und ohne Zukunft. Denn die Zukunft hatte schon aufgehört. War es nicht auch eine Ironie, dass auch mein Vater über seinen eigenen Tod im Voraus Bescheid wusste?
    So vergingen Tage, Wochen und Monate. Endlich, nach langem Bitten und einem halben Dutzend Briefe an den Aufseher, wurde mir gestattet, ein paar Bücher über die Gefängnisbibliothek zu bestellen. Ich gab einem der Wächter eine handgeschriebene Liste mit annähernd hundert Titeln. Es dauerte drei Wochen, bis sechs Bücher eintrafen. Laut dem blauen Stempel in den Romanen waren sie aus der öffentlichen Bibliothek von Dunnamora entliehen. Also war ich mit meinen Büchern alleine, unterbrochen nur von dem wöchentlichen Rundgang im Gefängnisgarten und den Mahlzeiten. Da war Robinson Crusoe, und Dumas. Da waren Kurzgeschichten von Conrad. Da war Steinbeck, Faulkner und da war »Das Ende der Affäre« von Graham Greene. Ich las und las, meinen Zeigefinger an der Zungenspitze immer wieder befeuchtend, bevor ich Seite für Seite umblätterte.
    Dann, für eine Weile, wurde ich des Lesens müde. Es war, als würde sich mein Gehirn von alledem befreien, was mich umgab, ja sogar von den Büchern. Stattdessen fing ich an zu reisen. Ich reiste nach Mexiko. Ich verbrachte dort Zeit im Leerlauf. Ich lernte Frauen kennen, die sich mir in ihrer Herrlichkeit anboten. Ich schlief mit ihnen, jede Stunde vögelte ich eine andere. Dicke, dünne, große, kleine, brünette und schwarzhaarige. Ich saugte wie um mein Leben an ihren Brüsten, wenn sie sich über mich beugten, sah ihnen zu, wie sie an meinem Schwanz lutschten. Ich war wie ein Süchtiger, trieb es von einem Orgasmus zum nächsten. Bis ich eines Tages damit aufhörte und wieder anfing zu lesen.
    Zu der Zeit durfte ich manchmal die Gefängnisbibliothek selbst aufsuchen. Ich hatte schnell herausgefunden, dass die Bibliothek hauptsächlich aus Kinderbüchern bestand. Zu meiner Überraschung aber stieß ich bei einem meiner Besuche auf eine Ausgabe von »River Blue«. Es handelte sich dabei bereits um das Taschenbuch, und jemand hatte mit Tinte den Namen »Spike« auf die zweite Seite geschrieben. Ich nahm das Buch mit in meine Zelle, nachdem von dem schwarzen, glatzköpfigen Lebenslänglichen, der die Funktion des Bibliothekars innehielt, meine Entlehnung sorgfältig notiert worden war.
    Mit dem Buch zog die Natur in meine kleine Zelle. Das Buch sog mich in die Geschichte, als würde ich es zum ersten Mal lesen. In kürzester Zeit fand ich mich auf den Straßen von »River Blue« wandernd. Die Sonne sank. Die Bäume rochen nachts würziger. Ich fühlte die Sonne eines neuen, warmen Tages auf meinem Gesicht, und die Luftfeuchtigkeit in meinen Lungen. Ich sah den trockenen Lauf mit seinem aufgesprungenen Flussbett und den südlichen Himmel mit seinem orangen Spätnachmittagslicht, sah bald darauf den Fluss im Dunkel der Nacht, wenn sich dort die Stadtjugend unbeobachtet fühlte, was jedermann wusste und woran sich niemand störte, da die Nächte am Fluss zur Tradition des Ortes gehörten. Ich hörte den Wind durch die großen Bäume wehen, Hunderte von Jahren alt, stumme Zeugen für mehr, als je ein Mensch in seinem Leben sehen durfte. Meine Lippen bewegten sich, während ich las, und mein Gehirn bemerkte nicht, wann eine Seite endete und eine neue anfing. Ich brachte meinen Zeigefinger mechanisch zu meiner Zunge. Ich vergaß die Zeit. Das Buch fesselte mich, sog mich in eine Vision, die von Seite zu Seite an Klarheit gewann. Ich rührte die Cracker und den falschen Schinken und den mehligen Apfel nicht an. Die Hintergrundgeräusche des Gefängnisses waren ausgeblendet. Ich las, als würde es mir das Leben retten. Trotz all des Schreckens, den der erste Satz des Buches andeutete, war seine vorrangige Stimmung die der

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