Der Schattengaenger
treffen.«
»Und?« Merle hielt den Atem an. Sie hatte eine solche Nachricht schon so lange herbeigesehnt, sich so lange gewünscht, Jette würde endlich die Kraft finden, aus der Trauer um ihre erste große Liebe aufzutauchen, dass sie jetzt Angst vor der Antwort hatte.
Jette seufzte.
»Heißt das … ja?«
Ein Lächeln stahl sich auf Jettes Gesicht, langsam und beinah leuchtend. Merle hatte die Freundin schon ewig nicht mehr so gesehen, so gelöst und unbeschwert, fast glücklich.
»Was genau hat er gesagt?« Merle setzte sich auf, drehte sich zu Jette und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. »Wie hat er sich angehört? Was hast du geantwortet? Nun mach schon! Spann mich nicht auf die Folter!«
»Er lässt mir Zeit, um darüber nachzudenken.«
»Mensch, Jette! Ein schöner Film, eine gute Pizza, ein bisschen quatschen.« Merle wollte unbedingt verhindern, dass Jette Gründe ins Feld führte, sich nicht mit diesem Lukas zu treffen, welche auch immer. »Das könntest du eigentlich riskieren, ohne erst eine Doktorarbeit über das Für und Wider zu verfassen.«
Jette nickte gedankenverloren. Sie hatte sich ebenfalls aufgesetzt. Ihren Teil der Decke um die Beine geschlungen, hatte sie die Arme auf die Knie gelegt und ihr Kinn daraufgestützt.
»Luke. Der Name passt zu ihm, findest du nicht?«
Wie sie das sagte! Mit diesem träumerischen Ausdruck auf dem Gesicht, den Merle seit Monaten nicht mehr bei ihr gesehen hatte. Sie hatte kaum noch daran geglaubt, ihm jemals wieder zu begegnen.
»Du magst ihn«, wagte Merle sich vor.
»Sogar sehr.« Jette knabberte an ihrer Unterlippe.
»Du wirst ihn treffen?«
Jette setzte sich kerzengerade hin. Ihre Hände flatterten wie Schmetterlinge durch die Luft und sanken wieder nieder. Ihre Finger fingen an, die Bettdecke glatt zu streichen und gleich darauf wieder zu zerknautschen. Sie lachte, kurz und atemlos. Dann rollten Tränen über ihre Wangen.
Bestürzt zog Merle sie in die Arme. »Ist ja gut«, sagte sie leise und tätschelte tröstend Jettes Rücken, wie sie das schon so oft getan hatte. »Ist ja gut.«
Vielleicht war es noch zu früh. Vielleicht heilte ein gebrochenes Herz nicht so schnell. Merle machte sich Vorwürfe. Sie nahm sich vor, noch mehr Geduld zu haben.
Jette löste sich aus der Umarmung. Ihr Gesicht war nass von Tränen, doch sie lächelte. »Ja.« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen. »Ich werde ihn treffen.«
Ihre Stimme klang armselig und klein. Merle hatte selbst Tränen in der Kehle. Sie schluckte sie herunter. Wie tapfer dieses Mädchen war!
»Ich bin stolz auf dich«, flüsterte sie, und das war sie wirklich. Es war, als steckte Jette vorsichtig den Kopf aus dem Sumpf. Merle lächelte. Und wenn die Freundin dann auch noch die Augen aufmachte, was würde sie da alles zu sehen bekommen!
Vielleicht, dachte Merle, fängt jetzt ihr Leben wieder an. Sie sah diesen Lukas Tadikken vor sich, wie er sie durch das Haus geführt hatte. Was immer du auch anstellen magst, dachte sie, ich verzeih dir im Voraus, Luke. Weil du gut bist für Jette.
Aber wage es nicht, ihr wehzutun!
»Komm frühstücken!« Jette sprang aus dem Bett. »Ich hole schnell Brötchen und bringe die Zeitung mit.«
Eine ausgezeichnete Idee, obwohl heute nicht Samstag war, sondern ein ganz normaler Wochentag, an dem Jette im St. Marien arbeiten musste und Merle Dienst im Tierheim hatte. Ein normaler Wochentag. Wie beruhigend banal sich das anhörte. Ihr Bedarf an Aufregung war in den vergangenen zwei Jahren überreichlich gedeckt worden. Sie hatten es sich verdient, morgens aufzustehen und abends schlafen zu gehen und dazwischen einen Tag zu erleben wie die meisten Menschen - ohne Todesangst und ohne Gefahr.
An der Tür drehte Jette sich noch einmal um. »Ab jetzt wird alles gut«, sagte sie und verschwand unter der Dusche. Sie hatte anscheinend die gleichen Gedanken gehabt. Und sie ebenfalls nicht ausgesprochen.
Alles, dachte Merle und glaubte wirklich daran.
Kapitel 6
Die Frühbesprechung hatte unter dem Eindruck allgemeiner Müdigkeit gestanden. Isa hatte behauptet, das liege daran, dass zurzeit Vollmond sei. Der lasse die meisten Frauen und die sensibleren unter den Männern unruhig schlafen und schlecht träumen. Unter ihren Augen lagen, wie zum Beweis für ihre Theorie, Schatten von einem feinen, hellen Violett.
»Ich hätte geschworen, Sie als Psychologin seien immun gegen jegliche Art von Aberglauben«, hatte der Chef sie mit seinem
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