Der Schattengaenger
anderen an ihrer Seite vor, einen, der ebenfalls Schriftsteller war, der Bilder malte oder Filme drehte. Einen mit einer Vision und genug Begabung, sie auch wahr werden zu lassen. Einen Seelenverwandten, der ihr ebenbürtig war.
Dabei wusste er doch, dass er auch so jemanden nicht dulden würde. Erst recht nicht so einen. Manuel machte das Licht aus und legte sich angezogen auf sein Bett. Er war viel zu aufgewühlt, um schlafen zu können. Er musste erst zur Ruhe kommen.
Niemand durfte für diese Frau wichtig sein. Niemand. Er selbst hatte nie irgendwen gehabt, der nur für ihn da gewesen wäre, nicht mal früher als Kind. Er hatte keine Ahnung, wie sich das anfühlte, für einen anderen Menschen das Kostbarste auf der Welt zu sein. Und wenn er noch so angestrengt nachdachte - ihm fiel nicht ein Einziger ein, der sich auch nur um ihn sorgte. Außer Ellen vielleicht.
Es hatte ihn schon immer fasziniert, dass es Menschen gab, die sich aus Liebe für einen anderen opferten, die ihre Frau aus den Flammen zogen und selbst darin umkamen, ihr Kind vorm Ertrinken retteten und selbst in den Fluten versanken. Unglaublich, so zu lieben. Und unglaublich, so geliebt zu werden.
Manuel konnte sich in solchen Geschichten verlieren. Den Film, in dem Clint Eastwood einen alternden Bodyguard spielt, der den amerikanischen Präsidenten vor einem Anschlag rettet, hatte er sich zwanzig Mal und öfter angeschaut. Die Vorstellung, so jemanden an seiner Seite zu wissen, einen starken, durchtrainierten Mann, der nicht eine Sekunde zögern würde, sein Leben für ihn zu geben, trieb ihm die Tränen in die Augen.
Kaum zu glauben, dass es Leute gab, die sich das einfach kaufen konnten.
Auch Imke Thalheim gehörte zu ihnen. Ihre Bücher hatten sie reich gemacht. Man brauchte sich bloß ihr Haus anzugucken und das weitläufige Grundstück mitten im Landschaftsschutzgebiet. Atemberaubend. Kein Normalsterblicher konnte sich etwas Derartiges leisten. Und dann die Art, wie sie sich kleidete, sich bewegte …
Manuel konnte reiche Leute schon an ihrem Gang erkennen. Sie besaßen eine lässige Eleganz, an der sie alles und jeden abprallen ließen. Ihre Körperhaltung signalisierte absolutes Selbstbewusstsein und einen Besitzanspruch auf die ganze Welt.
Reiche hatten wenig gemein mit den Durchschnittsbürgern, die unendlich viel Zeit und Kraft aufwenden mussten, um ihren ganz normalen Alltag zu organisieren. Sie spannten ohne den Anflug eines schlechten Gewissens andere für sich ein.
Imke Thalheim war da keine Ausnahme. Sie hatte eine Haushaltshilfe, die ein-, zweimal die Woche zu ihr ins Haus kam, um zu putzen, zu waschen und zu bügeln, und bestimmt gab es auch jemanden, der die Büroarbeit erledigte, und einen, der den Garten in Ordnung hielt.
Doch Manuel nahm ihr das nicht übel. Er zweifelte nicht daran, dass sie umdenken würde, sobald er ihr erklärte, wie falsch ein solches Schmarotzerdasein war. Er kannte ihr Innerstes, er hatte es in ihren Büchern gesehen. Und ihr Innerstes war gut.
Imke Thalheim war einfühlsam und gescheit. Sie verstand es, tief in die Psyche der Menschen hineinzuleuchten und das Wesentliche hervorzuholen. Das war ihre Kunst und ihre Kraft und er bewunderte sie dafür. Maßlos.
Inzwischen war aus der Bewunderung Liebe geworden. Nicht das flache, einförmige Gefühl, das die Menschen üblicherweise mit dem Begriff Liebe verbanden. Es war ein allumfassendes Empfinden, das sich über die gesamte Wirklichkeit spannte wie ein hohes, luftiges Zelt.
»Bald«, sagte er heiser und schlief ein, das Versprechen noch auf den Lippen.
Irgendwas hatte Bert geweckt, und nun saß er im Wohnzimmer, trunken von Schlaf und doch hellwach, und fragte sich, was er so früh am Morgen anfangen sollte. Der Wecker würde erst um sechs klingeln, also hatte er eine gute Stunde Zeit, bis alle anderen wach wurden. Zu früh für ein Frühstück, zu spät, um ins Bett zurückzukriechen.
Es war noch dunkel draußen, die Art von Dunkelheit, die bereits den beginnenden Tag erahnen lässt. Gähnend schaute Bert sich um. Die Möbel schienen noch in der Nacht festzustecken. Wäre er ein Dichter gewesen, hätte ihn das zu ein, zwei Zeilen inspiriert. Aber er war keiner. Manchmal bedauerte er das. Manchmal wurden Empfindungen in ihm so übermächtig, dass er sie sich gern vom Leib geschrieben hätte.
Seufzend griff er nach den Unterlagen, die er von Imke Thalheim mitgenommen hatte. Er würde sie auf Fingerabdrücke untersuchen lassen und sie
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