Der Schattengaenger
dann Isa vorlegen. Es war ihm lange nicht möglich gewesen, sinnvoll mit ihr zusammenzuarbeiten, weil er ihrer Art der Problemlösung grundsätzlich misstraut hatte. Doch mit der Zeit war ihm bewusst geworden, dass ihre Denkweisen einander ideal ergänzen konnten.
Außerdem hatte er mittlerweile den Menschen Isa hinter der Polizeipsychologin kennen und schätzen gelernt. Seitdem besprach er sich lieber mit ihr als mit den meisten seiner Kollegen.
Als er die Artikel jetzt noch einmal gründlich studierte, war es, als stünde Imke Thalheim hinter seinem Sessel und sähe ihm über die Schulter. Er hatte inzwischen jedes ihrer Bücher gelesen, mit dem Gefühl, ihr in die Seele zu blicken, ohne in Wirklichkeit das Geringste über sie zu wissen. Das hatte ihn verrückt gemacht, aber er hatte nicht aufhören können, weiter und weiter zu lesen.
Bert vertiefte sich in eines der Interviews. Er bewunderte ihren Wortschatz und die Sicherheit ihres Ausdrucks. Sie redete druckreif. Das würde ihm selbst in seinem ganzen Leben nicht gelingen. Doch was ihn regelrecht bestürzte, war die Offenheit, mit der sie auf die Fragen der Journalistin antwortete. Imke Thalheim gestattete dem Leser eine Nähe, die atemberaubend war.
Und hochgradig gefährlich. Es gab eine Menge Leute, die mit so etwas nicht umgehen konnten.
Bert griff nach den Fotos, um sie noch einmal zu betrachten, doch beim Anblick der roten Lippen und der blutigen Zähne schauderte es ihn, und er schloss für einen Moment angewidert die Augen.
»Perverser Wichser!«
Bert brachte es nicht fertig, länger herumzusitzen. Er musste sich bewegen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Er tappte in die Küche, brachte die Kaffeemaschine in Gang und fing an, den Tisch zu decken. Seit Kurzem galt Stalking als Straftat und konnte deshalb strafrechtlich verfolgt werden, doch bei anonymen Stalkern waren einem immer noch die Hände gebunden.
Die Kaffeemaschine gurgelte und spuckte. Bert mochte das Geräusch. Es erzeugte selbst in diesem Haus, aus dem sich die Liebe und das Glück längst verabschiedet hatten, ein Gefühl von Behaglichkeit, und er war dankbar dafür.
Vier Teller, vier Becher, zwei für Kaffee, zwei für Kakao, Messer und Löffel. Tausendmal aus dem Schrank geholt. Tausendmal Brot geschnitten und einen Teller mit Käsescheiben belegt. Tausendmal die Marmelade, den Honig und die Butter auf den Tisch gestellt. Tausendmal.
Wäre er wirklich fähig, daran etwas zu ändern? Auf die wunderbare Sicherheit zu verzichten, Teil einer Familie zu sein? Auf die Morgengesichter seiner Kinder, so furchtbar jung und verletzlich in ihrer Müdigkeit? Auf das Bewusstsein, sie jederzeit sehen zu können? Darauf, ihnen nah zu sein?
Der Magen drehte sich ihm bei dem Gedanken um, von hier wegzugehen.
Und da hörte er schon das Tippeln nackter Füße auf der Treppe. Das Rascheln eines Schlafanzugs. Er drehte sich um und begrüßte seine Tochter mit einem Lächeln.
»Hallo, Papa.«
Er drückte sie an sich und atmete ihren Geruch ein, diesen sauberen, frischen Duft, den nur Kinder an sich haben.
»Cornflakes?«, fragte er, obwohl er die Antwort kannte. Er schob seiner Tochter die Cornflakes über den Tisch und horchte auf die Geräusche im Haus. Sechs Uhr. Der Tag begann.
Merle fühlte sich zerschlagen und ausgelaugt. Jette lag friedlich schlummernd neben ihr, gemütlich in zwei Drittel der Bettdecke gekuschelt, während Merle sich notdürftig mit dem Rest zugedeckt hatte. Ganz schwach konnte Merle sich daran erinnern, dass Jette mitten in der Nacht zu ihr ins Bett geschlüpft war. Das war schon ewig nicht mehr passiert. Genau genommen seit …
»Morgen«, murmelte Jette, streckte sich und gähnte zum Steinerweichen.
»Es ist mir eine Ehre, dich in meinen Laken beherbergen zu dürfen«, sagte Merle ironisch. »Auch wenn ich fast erfroren bin.«
»Oh. Entschuldige!« Jette zerrte an der Bettdecke und schob ein gutes Stück davon zu Merle hinüber.
Versöhnt rückte Merle ein wenig dichter an die Freundin heran. »Erzähl.« Jette konnte ihr nichts vormachen. Sie kam nicht ohne Grund in der Nacht in Merles Zimmer. Vor allem nicht in ihr Bett.
»Luke.«
»Luke?«
»Lukas Tadikken … du weißt schon.«
»Luke. Soso.«
»Hör auf!« Jettes Ellbogen traf Merle an der Schulter. »Wenn du dich über mich lustig machst, sag ich kein Wort mehr.«
Merle verschloss ihre Lippen feierlich mit dem Zeigefinger.
»Er hat mich angerufen. Heute Nacht. Er will sich mit mir
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