Der Schattengaenger
hin zu ihren beruflichen Kontakten (für die wir eigentlich das Who’s Who hätten wälzen müssen).
Trotz unserer Wissenslücken war es eine ellenlange Liste geworden, doch keinem, der darauf aufgeführt war, traute ich zu, ein Stalker zu sein.
»Und jetzt die Familie«, hatte Merle gesagt und auf einem frischen Blatt Papier eine zweite Liste angelegt.
»Die Familie?«
»Wenn wir logisch vorgehen wollen, dürfen wir niemanden ausschließen.«
Mein Vater. Großmutter. War Merle denn verrückt geworden?
Sie schrieb den Namen meiner Großmutter auf, darunter den meines Vaters. Verzog den Mund dabei, als täte ihr allein die Vorstellung weh.
Also gut. Wenn sie es so haben wollte.
»Angie«, diktierte ich.
Der zweiten Frau meines Vaters traute ich fast alles zu. Mein Halbbruder kam nicht infrage, der war noch ein Baby, aber es standen sämtliche Tanten und Onkel, Vettern und Cousinen zur Debatte, und die Familie von Angie sollte bei unseren Überlegungen ebenfalls berücksichtigt werden, fand ich. Wenn schon, denn schon.
Nur kannten wir Angies Familie überhaupt nicht.
»Macht nichts«, sagte Merle. »Es geht hier nicht um Vollständigkeit, es geht doch nur darum, erste Anhaltspunkte zu sammeln.«
Das hatte mir eingeleuchtet. Wir konnten das Problem nicht im großen Paket lösen. Wir mussten irgendwo anfangen und uns Schritt für Schritt vortasten.
»Schade, dass Luke nicht hier ist«, sagte ich. »Er hätte bestimmt noch ein paar gute Ideen.«
Ich hatte ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Er hatte viel um die Ohren. Studium. Jobs. Immer noch war er ein Buch mit sieben Siegeln für mich. Ab und zu ließ er mich ein kurzes Kapitel lesen und klappte die Seiten dann schnell wieder zu.
»Die hätte er. Garantiert.«
Merle beugte sich tiefer über die Liste, doch ich sah trotzdem, dass sie verletzt war. Wir hatten uns immer aufeinander verlassen können und jeden Tiefschlag gemeinsam verkraftet. War in unserer Freundschaft kein Platz für einen wie Luke?
»Er ist anders als Claudio«, sagte ich leise. »Er ist anders als …« Ich brachte den Namen meiner ersten Liebe noch immer nicht über die Lippen. »Gib ihm doch bitte eine Chance.«
Merle nahm meine Hand und drückte sie. Ihr schienen die Worte zu fehlen, aber ich wusste auch so, was sie mir sagen wollte.
Ich nickte und versprach ihr damit, dass sich nichts und niemand würde zwischen uns drängen können. Nichts. Niemand. Nie.
Bert Melzig schluckte. Seine Wut überraschte ihn.
Ich liebe dich.
Was fiel diesem Dreckskerl ein, ihr das zu schreiben?
Ich brauche dich.
Natürlich konnte rein theoretisch auch eine Frau hinter diesem Brief stecken, doch Bert hielt das für unwahrscheinlich. Er spürte den Mann in jeder Zeile. Jede Silbe, jedes Wort verriet das Überlegenheitsgefühl eines Machos, der keine Grenzen akzeptierte.
Oder eines Psychopathen.
Ich werde dich kriegen.
Bert wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, um seine Mimik unter Kontrolle zu halten. Imke Thalheim beobachtete ihn. Sie lauerte auf eine Reaktion, die sie deuten konnte.
Diese Gewalt in den Zeilen. Die unverhüllte Drohung.
Bert nahm einen Schluck Kaffee und schlug die Beine übereinander. Das signalisierte Entspannung und Kompetenz. Genau das, was sie von ihm erwartete.
Dieser obszöne Blutfleck auf dem Büttenpapier. Dass es Blut war, hatte Bert auf den ersten Blick erkannt. Er war zu lange in diesem Geschäft, um sich in solchen Dingen zu irren. Blut ließ die Alarmglocken in seinem Kopf schrillen, egal in welcher Form er es vor sich hatte.
»Was … halten Sie davon?«
Er bemühte sich um den Anschein von Gelassenheit, bevor er den Kopf hob und sie anschaute. Die Furcht in ihren Augen machte ihn hilflos, doch das durfte er ihr nicht zeigen. Er verzog geringschätzig die Lippen.
»Ein Spinner.«
»Mehr nicht?«
»Wohl kaum.«
Sie neigte den Kopf. Betrachtete Bert voller Skepsis. Durfte er die Situation bagatellisieren? Sein Instinkt sagte ihm, dass dieses Schreiben alles andere als harmlos war. Wen wollte er beschwichtigen? Imke oder vielmehr sich selbst?
»Darf ich den Brief mitnehmen?«, fragte er wie beiläufig.
»Er ist übersät mit meinen Fingerabdrücken.«
»Trotzdem.«
Sie nickte. Für eine Weile war alles gesagt, und sie saßen im Wintergarten und schauten hinaus auf das stille Land, nach dem Bert Sehnsucht hatte, seit er es zum ersten Mal gesehen hatte. Auf dem Dach der Scheune hockte ein Raubvogel. Ein Bussard, wie Bert
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