Der Schattengaenger
nie hier begegnet.
»Commissario!« Marcello machte eine Verbeugung bis zum Boden, schwenkte dabei das weiße Tuch, das er über dem Arm trug, in einem großzügigen, eleganten Bogen und führte sie zu Berts Lieblingstisch am Fenster.
Er schob Isa den Stuhl zurecht und reichte ihnen die Karte. Wenig später servierte er ihnen einen Aperitif auf Kosten des Hauses. Während sie ihn tranken, studierten sie die Speisekarte, und Marcello tauchte genau zum richtigen Zeitpunkt geräuschlos wieder neben ihnen auf. Bert bestellte Lasagne, wie er das jedes Mal tat, Isa entschied sich für einen Salat mit Putenbruststreifen.
»E un aqua minerale?«, fragte Marcello. Wie immer.
»Si.« Bert nickte. Wie immer.
Isa beobachtete das Ritual, das sich zwischen Marcello und seinem Commissario entwickelt hatte, sichtlich amüsiert. Sie selbst probierte zu gern immer wieder andere Gerichte aus, als dass sich eine Gewohnheit hätte einschleichen können.
»Ich frage mich, was passieren würde, wenn ich mir je etwas anderes bestellen würde«, sagte Bert leise.
»Das darfst du ihm nicht antun«, gab Isa grinsend zurück. »Es würde seine schöne Inszenierung komplett in sich zusammenfallen lassen.«
Der Hof vor dem Fenster war leer geräumt. Eine riesige, zu einem grauen Spiegel gefrorene Pfütze bedeckte den Boden. Die vom frostigen Wind der vergangenen Wochen verwehten Blätter hatten sich in der Kälte zusammengezogen. Ihre vereisten Ränder leuchteten im trüben Winterlicht.
Bald würden wieder Gäste dort sitzen, geschützt unter gelben Sonnenschirmen. Vögel würden im Efeu rascheln, und die schwanzlose weiße Katze würde sich ein abgelegenes Plätzchen suchen und darauf hoffen, für eine Weile von Marcello geduldet zu werden. Dezente Musik würde das eifrige Klappern der Gabeln und Messer begleiten, und Marcello würde jedem einzelnen Gast das Gefühl vermitteln, nirgendwo könnte mehr Italien sein als hier.
Beim Essen erzählte Bert von Imke Thalheims Reiseplänen. Die ersten Bissen einer vorzüglichen Lasagne begannen, seinen Magen zu füllen und sein Gemüt zu besänftigen. »Was glaubst du«, fragte er schließlich. »Wie wird der Typ reagieren?«
»Schwer zu sagen.« Isa hob den Kopf. »Nach allem, was ich über diesen Mann erfahren habe, scheint er mir nicht zur Kategorie derer zu gehören, die ihr Opfer aus den Augen verlieren und dann einfach vergessen.«
»Sondern?«
»Es kann eine ungeheure Wut in ihm auslösen, wenn er die Kontrolle über sein Opfer verliert. Nichts ist schlimmer für einen Stalker, als das Objekt seiner Begierde nicht erreichen zu können.«
»Wut …«
»Zuerst wird er verwirrt sein, dann verzweifelt, und schließlich wird seine Hilflosigkeit kippen und ihn rasen lassen. Wahrscheinlich.«
»Wahrscheinlich? Hatte ich fast vergessen, dass man sich in deiner Branche ungern festlegt.«
»Das hat mit gern oder ungern nichts zu tun, Bert. Es geht hier um einen gestörten Menschen. Die Reaktionen eines Normalbürgers, wenn du mir diesen Ausdruck verzeihst, sind schon nicht berechenbar. Wie viel weniger dann die eines psychisch Gestörten?«
Isa redete sich immer mehr in Rage. Marcello, der an ihren Tisch getreten war, um sich zu überzeugen, dass mit dem Essen alles in Ordnung war, zog sich dezent zurück »Du hast ja recht.« Bert berührte ihren Arm. »Ich komme mir nur vor wie einer, der im Schnee einen Eisbären sucht.«
»Kein gutes Gefühl.«
»Wahrhaftig nicht.«
»Wenn du Fragen hast …«
»Eine. Sie brennt mir auf der Seele.«
Isa schaute ihn erwartungsvoll an, Messer und Gabel wie vergessen in den Händen.
»Soll ich versuchen, Imke Thalheim zurückzuhalten? Sollte sie besser nicht verreisen?«
Isa blickte nachdenklich aus dem Fenster. Dann sah sie ihn an und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich weiß es nicht, Bert. Ich wünschte bei Gott, ich wüsste es.«
Bert hatte mit dieser Antwort gerechnet. Dennoch fühlte er sich alleingelassen. Wie so oft. Doch das hatte nichts mit Isa zu tun. Er wusste, dass sie sich alle Mühe gab, ihn zu unterstützen.
Sie schien mit sich zu kämpfen, und als sie endlich aussprach, was sie dachte, begriff Bert, warum.
»Du magst diese Frau.«
Bert wich ihrem Blick aus. Er senkte den Kopf.
»Lieber Himmel …«
Bert war ihr dankbar dafür, dass sie den Rest ihrer Gedanken für sich behielt.
Alles war vorbereitet. Koffer, Büchertrolley und Laptop standen fertig gepackt in einer Ecke des Schlafzimmers. Imke brauchte nur noch
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