Hades
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1
Alles auf Anfang
Es läutete. Endlich Schulschluss! Xavier und ich packten unsere Sachen zusammen und sahen zu, dass wir nach draußen kamen. Eigentlich war für heute Nachmittag schönes Wetter vorausgesagt worden, aber die Sonne war noch nicht durchgekommen, und der Himmel trug ein freudloses, metallenes Grau. Nur ab und zu drangen blasse Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke, ließen kleine Sonnenflecken über den Boden tanzen und wärmten mir den Nacken.
«Kommst du heute Abend zum Essen zu uns?», fragte ich Xavier und hakte ihn unter. «Gabriel will Burritos machen.»
Xavier sah mich an und lachte.
«Was ist daran so lustig?»
«Ich habe mich nur gerade etwas gefragt», sagte er, «wie kommt es eigentlich, dass Engel in Gemälden immer als Bewacher des himmlischen Throns dargestellt werden oder beim Kampf mit Dämonen? Warum zeigt man sie nie, wie sie in der Küche stehen und Burritos machen?»
«Weil das unseren Ruf ruinieren würde.» Ich versetzte ihm einen neckenden Stups. «Also, kommst du?»
«Nein, ich kann nicht.» Xavier seufzte. «Ich habe meiner Schwester versprochen, mit ihr Kürbisse auszuhöhlen.»
«Ach ja, Halloween! Das hatte ich schon wieder völlig verdrängt.»
«Versuch doch einfach, dich damit anzufreunden», sagte Xavier. «Das ist hier nun mal eine ziemlich große Sache.»
Das war nicht übertrieben. Schon jetzt waren zu Ehren des großen Ereignisses sämtliche Veranden mit Kürbissen und Grabsteinen aus Gips dekoriert.
«Ich weiß», sagte ich. «Aber allein die Vorstellung verursacht mir Gänsehaut. Warum verkleidet man sich freiwillig als Geist oder Zombie? Das ist, als würden unsere schlimmsten Albträume wahr werden.»
«Beth.» Xavier blieb stehen und fasste mich an der Schulter. «Es ist einfach nur ein Feiertag. Mach dich locker!»
Er hatte recht. Ich sollte nicht immer so misstrauisch sein. Seit der schrecklichen Geschichte mit Jake Thorn waren immerhin schon sechs Monate vergangen, und seitdem hätte es nicht besser laufen können. In Venus Cove war wieder Frieden eingekehrt, und ich fühlte mich dort wohler als je zuvor. Die verschlafene kleine Stadt an der malerischen Küste von Georgia war mein Zuhause geworden. Vor allem die Hauptstraße mit den pittoresken Häusern und den schnörkeligen Ladenzeilen war die reinste Postkartenidylle. Überhaupt verströmte hier vom Kino bis zum alten Gericht alles den Charme des Südens und den Glanz längst vergangener Zeiten.
Im Laufe des letzten Jahres hatte sich Venus Cove durch den Einfluss meiner Familie in eine Vorzeigestadt verwandelt. Die Zahl der Kirchenbesucher hatte sich verdreifacht, soziale Einrichtungen konnten sich vor freiwilligen Helfern kaum retten, und die Kriminalität war so weit zurückgegangen, dass die Polizei gezwungen war, sich mit anderen Dingen die Zeit zu vertreiben. Es kam höchstens noch zu kleinen Zwischenfällen, wenn sich zum Beispiel zwei Autofahrer darüber in die Haare bekamen, wer von ihnen den Parkplatz zuerst gesehen hatte. Aber das war einfach menschlich. Es ließ sich nicht ändern, und es war auch nicht unsere Aufgabe, es zu versuchen.
Die beste Entwicklung von allen aber war, dass Xavier und ich uns noch näher gekommen waren. Ich blickte ihn von der Seite an. Wie gut er aussah … einfach atemberaubend. Der Look mit der gelockerten Krawatte und dem lässig über die Schulter hängenden Blazer stand ihm gut. Während wir im Gleichschritt nebeneinander hergingen, streifte sein sehniger Körper immer wieder meinen. Dies war einer der Momente, in denen ich das Gefühl hatte, eine Einheit mit ihm zu bilden.
Seit seinem Kampf mit Jake vor ein paar Monaten ging Xavier noch häufiger ins Fitnessstudio und trieb noch energischer Sport als vorher. Alles nur, um beim nächsten Mal besser in der Lage zu sein, mich zu beschützen – und das Ergebnis seiner Anstrengungen gefiel mir nur zu gut. Er war so schlank wie immer, aber seine Brust war muskulöser geworden, und er hatte einen richtigen Waschbrettbauch bekommen. Unter dem dünnen Stoff seines Hemds zeichneten sich die Muskeln am Arm ab. Ich musterte sein ausgeprägtes Profil: seine gerade Nase, die hohen Wangenknochen und die vollen Lippen. Wenn die Sonne auf sein walnussfarbenes Haar fiel, schien es mit Goldfäden durchzogen zu sein, und seine mandelförmigen Augen strahlten wie flüssige blaue Edelsteine. Am Ringfinger trug er mein Geschenk, einen breiten Silberring mit den drei Symbolen des Glaubens:
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