Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schattengaenger

Der Schattengaenger

Titel: Der Schattengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
Vom Netzwerk:
Leben verbrachte - er hörte zu. Auf Bitten des Patienten hatte er das Aufnahmegerät eingeschaltet. Jede einzelne Stunde sollte dokumentiert werden, das war Ron sehr wichtig. Es war, als verfasste er auf diese Weise so etwas wie sein Vermächtnis.
    Dazu war er eigentlich viel zu jung. Ron war siebzehn, da war man in der Regel mit dem Leben beschäftigt.
    »Die Welt soll wissen, was ich denke«, hatte Ron gesagt. Und sofort den Kopf wieder eingezogen, als habe er sich zu weit hervorgewagt.
    Die Welt. Für diesen Jungen ein kalter, feindlicher Ort, an dem er nichts verloren hatte. Seine Gedanken? Nicht mal Rons Mutter interessierte sich dafür. Er konnte froh sein, wenn sie ihn zwischen ihren vielen Besäufnissen überhaupt noch erkannte.
    Ron hatte die Angewohnheit, kreuz und quer zu denken. Es gelang ihm nicht, seine Eindrücke zu ordnen. Also konnte es ihm auch nicht gelingen, sie systematisch in Worte zu fassen. Es bereitete ihm ja schon Mühe, überhaupt Worte zu finden.
    Tilo rückte sich gequält in seinem Sessel zurecht. Rons Gestammel tat ihm weh. Er musste sich zusammenreißen, um nicht die unbeholfenen Sätze des Jungen für ihn zu Ende zu bringen und ihm so die Anstrengung zu ersparen.
    Ungefragt drängte sich wieder der Stalker in seine Gedanken. Er war nicht Vergangenheit, wie Imke sich das einzureden versuchte. Er holte bloß Luft. Um danach umso kräftiger zuzuschlagen.
    Tilo betrachtete Rons blasses Gesicht mit dem blonden Flaum am Kinn. Verwundert stellte er fest, dass die Augen des Jungen im hellen Licht der Lampe von einem intensiven Grün waren, das zu der Farblosigkeit der übrigen Erscheinung in krassem Widerspruch stand. Wieso war ihm das nie aufgefallen?
    Die schmalen, blutleeren Lippen bewegten sich, gaben schiefe, schimmernde Zähne frei. Die Hände mit den nikotingelben Fingern und den abgebissenen Nägeln ruhten auf den mageren Oberschenkeln. Den Jeans hätte eine Wäsche gutgetan.
    Der Rauch unzähliger Zigaretten hatte sich in Rons Kleidern festgesetzt. Bei jeder Bewegung wölkte der üble Geruch auf, vermischt mit undefinierbaren Essensdüften.
    »… ein schwieriges Leben«, sagte Ron.
    Warum nicht einer meiner Patienten?, überlegte Tilo. Hatte er nicht schon eine ganze Reihe von Übertragungen erlebt? Patientinnen und Patienten, die sich auf ihn fixiert hatten? Während einer Therapie waren sämtliche nur vorstellbaren Emotionen im Spiel. Liebe auf die eine oder andere Weise gehörte fast immer dazu.
    Und manchmal Hass.
    Die Patienten durchlebten die unterschiedlichsten Phasen. Anfangs waren sie voller Hoffnung, aber auch voller Abwehr und Angst. Sie hatten Sehnsucht nach Nähe und gleichzeitig das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Mühsam lernten sie, Tilo zu vertrauen. Sich gehen zu lassen. Oft brauchten sie Jahre dazu.
    Manchen gelang es nie.
    Und dann, wenn alles überstanden, jedes Tal durchschritten, jeder Gipfel erklommen, jeder Absturz verkraftet und die eine oder andere Wunde verheilt war, dann kam der Augenblick, in dem sie lernen mussten, wieder loszulassen.
    Die Therapie war beendet.
    Es gab Patienten, die ihn trotzdem ständig anriefen. Ihn mit Briefen bombardierten. Die wie Zugvögel immer wieder zur Praxis zurückfanden.
    Bloß um Guten Tag zu sagen, Herr Doktor.
    In Wahrheit wollten sie sich vergewissern, dass Tilo weiterhin an seinem Schreibtisch saß, Tag für Tag, rechtschaffen, vertrauenswürdig und im Notfall zuverlässig erreichbar.
    Warum nicht einer von ihnen? Einer, der Tilo vorwarf, ihn im Stich gelassen zu haben. Einer, der die Abnabelung von seinem Therapeuten nicht verkraftet hatte. Einer, der seine ganze nicht erwiderte Liebe auf Tilo projiziert hatte. Der eifersüchtige Ehemann oder Freund einer schwärmerischen Patientin.
    Tilo nahm sich vor, darüber nachzudenken.
    Aber wo sollte er anfangen? Wie weit zurückgehen in seinen Überlegungen? Wer wollte ihn bestrafen?
    Er zuckte zusammen. Irgendetwas war anders.
    Ron. Er hatte aufgehört zu reden.
    Still saß er da und schaute Tilo abwartend an. In seinem Blick lag etwas Lauerndes, Hungriges. Etwas, das nur darauf wartete, enttäuscht zu werden.
    »Schön, Ron«, sagte Tilo und erwiderte den Blick seines Patienten mit einem aufmunternden Lächeln, während er realisierte, dass er von den letzten Sätzen rein gar nichts mitbekommen hatte. Er schaltete das Aufnahmegerät aus und legte Stift und Papier auf dem Tisch ab.
    Ron stand auf. »Sie haben heute selber Kummer«, sagte er, und sein Blick flackerte

Weitere Kostenlose Bücher