Der Schattenjäger (German Edition)
Magie, wenn sie vor ihr angewendet wurde. Und sie kannte den Unterschied zwischen einem harmlosen Alltagszauberspruch, den sie im Umgang mit ihrer Mutter gelernt hatte, und wirklich großer Magie. Dieser Bann war von solcher Gewalt, dass kein frommer Jude ihn ausgesprochen hätte, aus Furcht, das Gleichgewicht der Welt zu zerstören. Sie war in die Hände eines
Mechaschefs,
eines bösen Zauberers, gefallen und nur Gott und seine Engel konnten sie schützen.
Sie verließen die Bowery und bogen südlich in eine dunkle Seitenstraße. Hier fiel ihr auf, dass sie nur wenige Häuserblocks entfernt von ihrer Wohnung in der Hester Street waren.
Gewöhnlich herrschte in der jüdischen Lower East Side um diese abendliche Stunde ein geschäftiges Treiben. Schichtarbeiter kamen nach Hause, Kinder spielten im Rinnstein, Hausfrauen schwatzten in Hauseingängen und auf Feuertreppen. Heute Abend aber schienen alle Leute taub geworden oder sie schauten an Mrs Kessler vorbei, als sie um Hilfe rief. Sie und ihre Entführer bewegten sich lautlos wie Tiefseewesen, getrennt vom Rest der Welt durch die Last vieler Tausend Meter schwarzen Wassers. Und sie ahnte, dass der
Mechaschef
die Männer angewiesen hatte, durch dieses Viertel zu gehen. Sie sollte spüren, dass seine Macht bis an ihre Haustür, ja bis hinein in ihre Familie reichte.
Als die Männer sie in die U-Bahn-Station an der Canal Street schleppten, sah sie im Vorübergehen ein Schild mit der krakeligen Aufschrift:
STATION WEGEN GLEISARBEITEN GESPERRT
Sie führten sie über den Bahnsteig. Neben ihr gähnte das dunkle Loch des Schienenstrangs, nur das führende Gleis schimmerte drohend wie ein tödliches, elektrisiertes Silberband – da tauchte plötzlich ein einsamer U-Bahn-Zug auf, fuhr in die Station ein und öffnete vor ihr flüsternd seine Türen. Die Entführer zwangen sie einzusteigen und stießen sie in die Polster eines mit rotem Samt bespannten Sessels. Die Stehlampe neben dem Sessel hatte ebenfalls einen dunkelroten Lampenschirm, der mit geschliffenen Kristallen verziert war. Die Lampe umgab nur ein gedämpfter Lichtschein.
Die Kristalle des Lampenschirms klickten leise, als sich der Zug wieder in Bewegung setzte und Richtung Norden Fahrt aufnahm. Ein paar Blocks hinter Grand Central bog er auf ein unbeleuchtetes Gleis ab und fuhr sanft in eine Station ohne Namen oder Straßennummer ein. Die Station war privat, wie der Zug, und stand diesem in puncto Luxus in nichts nach. Die gewölbte Decke wurde von gusseisernen Säulen getragen. Die Wände zierten Mosaiken mit Nymphen und bocksfüßigen Gestalten. An einem Ende des Bahnsteigs plätscherte leise ein Springbrunnen, am anderen wand sich eine Marmortreppe in ein nur von flackerndem Gaslicht erhelltes Dunkel.
Die beiden Männer eilten mit ihr die Treppe hinauf, durchquerten das Halbdunkel eines Foyers und betraten einen weitläufigen Raum, in dem ihre Schritte wie in einer Kathedrale hallten.
Sie befanden sich in einer Bibliothek. Bücher reihten sich hinter Glasscheiben zwei, drei Stockwerke über ihren Köpfen. Wendeltreppen führten zu schmiedeeisernen Balkonen, auf denen Holzleitern standen, die zu noch höheren Balkonen hinaufreichten. Ganz oben an den Wänden hingen Jagdtrophäen – Köpfe von Tieren, die sie noch nie vorher gesehen und einige, von denen sie noch nie gehört hatte. Das waren
Kelippot
, hohl und leer wie Menschen, von denen
Dibbuks
Besitz ergriffen hatten. Ihre toten Augen funkelten wie Sterne, blendend und beängstigend zugleich. Doch noch beängstigender war der Mann, der vor dem flackernden Kaminfeuer auf sie wartete. Grau wie Asche, kalt wie Eisen, bitter wie der Tod eines Kindes – so erschien ihr dieser Mann.
Er trug Schwarz, weshalb sie zuerst dachte, es sei ein Zauberergewand, wie es die bösen
Mechaschfim
aus den Büchern ihres Vaters trugen. Diese gehörten aber auf die andere Seite des Atlantiks und in ihre Kindheit. Dann bemerkte sie das schimmernde Weiß an den Handgelenken und am Hals und begriff, dass es sich um Abendgarderobe handelte. Sie hatte einmal in einer Fabrik gearbeitet, wo solche Kleider hergestellt wurden, aber nie Leute gesehen, die so etwas auch trugen. Nun erst erfuhr sie, wie imposant, streng und einschüchternd die Leute darin aussahen.
Der einzige Farbtupfer an diesem Mann – und überhaupt das Einzige in diesem gewaltigen Raum, das am Licht und an der Wärme des Lebendigen teilhatte – war die goldgelbe Flüssigkeit, die er in einem Kristallglas
Weitere Kostenlose Bücher