Der Schattenprinz
Rayvan.
»Glaubst du?«
»Ja. Du und deine Freunde, ihr seid euch sehr ähnlich, weißt du das? Ihr alle seid unvollständig -schrecklich traurig und sehr allein. Kein Wunder, daß ihr euch zueinander hingezogen fühlt. Wir anderen können unser Leben teilen, Scherze machen und Geschichten erzählen, wir können zusammen lachen und weinen.
Wir leben und lieben und wachsen. Wir geben uns jeden Tag ein bißchen Trost, und das hilft uns zu überleben. Aber ihr habt nichts Derartiges zu geben. Statt dessen gebt ihr euer Leben - euren Tod!«
»So einfach ist das nicht, Rayvan.«
»Das Leben ist selten einfach, Decado. Aber ich bin nur eine schlichte Frau aus den Bergen und male die Bilder so, wie ich sie sehe.«
»Ach, komm, an dir ist nun wirklich nichts einfach! Aber laß uns einmal annehmen, daß du recht hast. Glaubst du, daß Tenaka, Ananais oder ich uns ausgesucht haben, wie wir sind? Mein Großvater hatte einen Hund. Er wollte, daß der Hund die Nadir haßte, und so beschäftigte er einen alten Stammeskrieger, der jede Nacht auf den Hof kommen und den Welpen schlagen mußte. Der Welpe wuchs heran. Er haßte diesen alten Mann und jeden, der schrägstehende Augen besaß. Würdest du den Hund dafür verantwortlich machen? Tenaka wuchs inmitten von Haß auf, und wenngleich er es nicht zurückgab, hat der Mangel an Liebe doch seine Spuren hinterlassen. Er hat sich eine Frau gekauft und sie mit allem überhäuft, was er besaß. Jetzt ist sie tot, und er hat nichts mehr.
Und Ananais? Du brauchst ihn nur anzusehen, um zu wissen, unter welchen Qualen er leidet. Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte. Sein Vater starb im Wahn, nachdem er Ananais’ Mutter vor dessen Augen umgebracht hatte. Und zuvor hatte er mit Anis’ Schwester geschlafen - sie starb im Kindbett.
Und was mich betrifft, meine Geschichte ist fast noch schlimmer und trauriger. Also erspare mir deine Predigten, Rayvan. Wäre einer von uns auf den Hängen dieser Berge aufgewachsen, wären wir bessere Menschen geworden, da bin ich sicher.«
Daraufhin lächelte sie, hockte sich auf die Mauer und drehte sich so, daß sie auf ihn hinabschauen konnte. »Dummer Junge!« sagte sie. »Ich habe nicht gesagt, daß ihr bessere Menschen sein sollt. Ihr drei seid die besten, und ich liebe euch. Du bist nicht wie der Hund deines Großvaters, Decado - du bist ein Mann. Und ein Mann kann seine Vergangenheit überwinden, so, wie er einen starken Gegner überwinden kann. Sieh dich doch nur öfter einmal um! Sieh dir die Menschen an, wie sie sich berühren und sich ihre Liebe zeigen. Aber sieh nicht kalt zu, wie ein Beobachter. Bleib nicht draußen, außerhalb des Lebens, sondern nimm Teil daran. Es gibt Menschen, die darauf warten, dich zu lieben. Das solltest du nicht leichtfertig abweisen.«
»Wir sind, was wir sind. Bitte, verlange nicht mehr. Ich bin ein Schwertkämpfer. Ananais ist ein Krieger. Tenaka ist ein unvergleichlicher General. Unsere Herkunft hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Ihr braucht uns, so wie ihr uns seht.«
»Kann sein. Aber vielleicht könntet ihr noch größer sein.«
»Jetzt ist nicht die Zeit für Experimente. Komm, ich bringe dich zurück auf dein Zimmer.«
Steiger saß auf dem breiten Bett und starrte die altersdunkle Tür an. Tenaka war fort, doch er konnte den großen Nadirkrieger noch immer sehen und die leisen Befehle hören.
Es war eine Farce - er saß in der Falle, verstrickt in dieses Netz aus Helden.
Dros Delnoch einnehmen?
Ananais könnte Dros Delnoch einnehmen, indem er es allein angriff, sein Silberschwert in der Morgensonne funkelnd. Tenaka könnte es mit Hilfe eines improvisierten Planes einnehmen, einem Geniestreich, zu dem nichts weiter benötigt wurde als ein Stück Schnur und drei Kieselsteine. Das waren Männer, für Legenden geschaffen, von den Göttern gezeugt, um Stoff für Sagen zu liefern.
Aber wo paßte Steiger da hinein?
Er ging zu dem langen Spiegel an der Wand. Ein großgewachsener junger Mann blickte ihm daraus entgegen; das dunkle schulterlange Haar wurde von einem schwarzen Lederstirnband zurückgehalten. Die Augen blickten wach und intelligent; das Kinn war kantig und strafte die Sagendichter Lügen. Die eingefaßte Rindslederweste saß gut und wurde in der schmalen Taille von einem breiten Schwertgürtel gehalten. An seiner linken Hüfte hing ein Dolch. Die Beinkleider waren aus feinstem dunklem Leder, die Stiefel schenkellang nach Art der Legion. Er griff nach seinem Schwert, ließ es in die
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