Der Schattenprinz
Armee aufzutreiben. Aber ich werde wiederkommen.«
»Wo willst du eine Armee finden?«
»Bei meinem Volk.«
Das plötzliche Schweigen im Saal war drückend. Männer tauschten nervöse Blicke aus; nur Ananais wirkte ungerührt. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Füße auf den Tisch.
»Erkläre uns das«, murmelte Rayvan.
»Ich glaube, ihr wißt genau, was ich meine«, sagte Tenaka kühl. »Das einzige Volk, das genug Krieger hat, um Ceska Kopfschmerzen zu bereiten, sind die Nadir. Wenn ich Glück habe, werde ich eine Armee aufstellen.«
»Du willst diese mörderischen Wilden nach Drenan bringen? Sie sind schlimmer als Ceskas Bastarde«, sagte Rayvan und erhob sich. »Das werde ich nicht zulassen! Eher sterbe ich, als daß diese Barbaren einen Fuß nach Skoda setzen!«
In der ganzen Runde hieben Männer zum Zeichen ihrer Zustimmung mit den Fäusten auf den Tisch. Dann stand Tenaka auf und hob, um Ruhe bittend, die Hände.
»Ich kann eure Bedenken verstehen. Ich bin bei den Nadir aufgewachsen und weiß, wie sie sind. Aber sie fressen keine Kinder, und sie paaren sich auch nicht mit Dämonen. Es sind Menschen, Menschen, die für den Krieg leben. Das ist ihre Natur. Und sie haben Ehre. Aber ich bin nicht hier, um mein Volk zu verteidigen - ich bin hier, um euch die Möglichkeit zu geben, den Sommer zu überleben.
Glaubt ihr, wir hätten einen großen Sieg errungen? Ihr habt lediglich ein kleines Scharmützel gewonnen. Ceska wird fünfzigtausend Mann gegen euch schicken, wenn der Sommer kommt. Womit wollt ihr diesem Heer begegnen?
Und wenn sie euch schlagen, was geschieht dann mit euren Familien? Ceska wird eine Wüste aus Skoda machen! Wo jetzt Bäume stehen, werden Galgen stehen: ein Land voller Kadaver, öde und gefoltert.
Es gibt keine Sicherheit, daß ich bei den Nadir eine Armee zusammenbekomme. Für sie bin ich mit dem Makel des Rundaugenbluts behaftet - verflucht und weniger als ein Mensch. Denn sie sind genauso wie ihr. Nadirkinder werden mit Geschichten über eure Greueltaten groß, und unsere Legenden sind voll von Geschichten über eure Völkermorde.
Ich frage nicht um eure Erlaubnis für das, was ich tue. Um ehrlich zu sein, schere ich mich keinen Deut darum! Ich reise morgen ab.«
Er setzte sich wieder. Alles schwieg, und Ananais beugte sich zu ihm hinüber.
»Es war doch gar nicht nötig, so um den heißen Brei herumzureden«, sagte er. »Du hättest es ihnen ganz unverblümt sagen können.«
Seine Bemerkung rief ein unfreiwilliges Schnauben von Rayvan hervor, das sich in ein kehliges Lachen verwandelte. Am ganzen Tisch wich die Spannung lautem Gelächter, während Tenaka mit verschränkten Armen dasaß, rot im Gesicht und mit ernster Miene.
Endlich ergriff Rayvan das Wort. »Mein Freund, dein Plan gefällt mir nicht. Und ich glaube, daß ich für jeden hier spreche. Aber du warst ehrlich zu uns. Ohne dich wären wir alle jetzt Geierfraß.« Sie seufzte, stützte sich auf den Tisch und legte eine Hand auf Tenakas Arm. »Du scherst dich sehr wohl einen Deut darum, sonst wärst du nicht hier. Und wenn du unrecht hast - so sei es denn. Ich stehe hinter dir. Bring deine Nadir her, wenn du kannst, und ich werde den ersten Ziegendreck fressenden Hundesohn umarmen, der mit dir hier einreitet.«
Tenaka entspannte sich und blickte in ihre grünen Augen. »Du bist wirklich eine bemerkenswerte Frau, Rayvan«, flüsterte er.
»Du tätest gut daran, das nicht zu vergessen, General!«
Ananais verließ in der Abenddämmerung die Stadt, froh, ihrer lärmenden Beengtheit zu entkommen. Einst hatte er das Stadtleben genossen, mit seinen endlosen Fenstern und Jagden. Es gab schöne Frauen, die er lieben und Männer, mit denen er sich im Ringen oder Schwertkampf messen konnte. Es gab Falken und Turniere und Tänze, da das zivilisierteste westliche Volk in Vergnügen schwelgte.
Aber damals war er der Goldene gewesen - und Gegenstand vieler Legenden.
Er nahm die schwarze Maske von seinem zerfetzten Gesicht, damit der Wind die Narben kühlen konnte. Er ritt einen mit Ebereschen bestandenen Hügel hinauf, glitt aus dem Sattel und setzte sich, um die Berge zu betrachten. Tenaka hatte recht - es hatte keinen Grund gegeben, die Männer der Legion zu töten. Es war ihr Recht gewesen, zurück in die Heimat zu gehen. Mehr noch: ihre Pflicht. Aber Haß war eine starke Kraft, und in Ananais’ Herz hatte der Haß sich tief eingegraben. Er haßte Ceska für das, was er dem Land und dem Volk angetan
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