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Der Schattensucher (German Edition)

Der Schattensucher (German Edition)

Titel: Der Schattensucher (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timo Braun
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Geschichte der Stadt.
    Alvin zeigte auf das riesige Gebäude vor dem Marktplatz, an das sich das Bürgerviertel anschloss, und fragte den Alten, was es damit auf sich hatte.
    »Nun, ein früherer Kämmerer hat einmal gesagt: ›Wir haben ein so reizvolles Senatshaus errichtet, dass der Besucher seine Aufmerksamkeit schnell von Briangard abwendet.‹ Er meinte mit ›reizvoll‹ wohl die kunstvolle Giebelfassade, die zahlreichen Figuren zwischen den Fensterreihen und die vielen kleinen Türme. Ja, das Senatshaus ist prächtig. Seht Euch das stolze Stadtwappen unter dem Balkon an. Daran haben sie ein Jahr gearbeitet. Zwei Jahre später war der Kämmerer tot. Sein Name ist neben hundert anderen in einen Querbalken des Senatshauses geritzt. Inzwischen hat man es um ein weiteres Stockwerk vergrößert und die Fassade weiter verfeinert.
    Wisst Ihr, das Senatshaus und der Markt gehören zueinander. Sie sind das Herz von Alsuna geworden. Wer den Menschen etwas mitteilen möchte, der muss auf den Balkon stehen und zum Markt sprechen; am besten vormittags, wenn die meisten Leute da sind. Dann drehen alle die Köpfe zu ihm und hören brav zu, sofern seine Stimme kräftig genug ist. Was nicht über den Balkon verkündet wird, wird auf der großen Holztafel neben dem Tor im Säulengang angeschlagen. Dort sind auch die besten Händler. Gewürze und Fleisch, das aus anderen Städten geliefert wird, holt Ihr am besten dort. Und die neuesten Gerüchte der Stadt könnt Ihr ebenfalls dort erfahren.« Er drehte sich zu Alvin um. »Ihr seht nicht so aus, als wolltet Ihr Euch nur mal alles anschauen.«
    Alvin lächelte. »Ihr habt recht.«
    »Ein Zugewanderter?«
    »Gewissermaßen.«
    »Wusste ich's doch. Ich habe einen Blick für so etwas. Habt Ihr einen Beruf?«
    »Ich bin Handwerker.«
    »Oh, was stellt Ihr denn her?«
    »Ich schleife Diamanten«, sagte Alvin.
    »Damit werdet Ihr hier wohl nicht reich. Hier gibt es sehr wenige Edelsteine.«
    »Natürlich kann ich mein Geschick auch anderweitig einsetzen. Ich werde mich einfach umsehen.«
    »Ich verstehe.« Er zögerte und schaute Alvin stirnrunzelnd an. »Verratet Ihr mir, was Euch hierherbringt?«
    »Ich glaube«, antwortete Alvin nachdenklich und ehrlich, »ich möchte einfach zu dieser Stadt gehören.«
    »Zur Stadt gehören. Verstehe, verstehe. Dann lasst Euch einen Rat geben: Lasst die Stadt, wie sie ist, und Ihr werdet hier zufrieden leben können.«
    Alvin lächelte noch einmal in das Gesicht des Alten, dankbar für seine Hilfe. Doch seinen Rat, nein, den würde er nicht befolgen.

4. Kapitel
    Alsuna, Jahr 304 nach Stadtgründung
    Es war ein besonders geschäftiger Markttag, als an einer Säule des Senatshauses ein in helles Beige gekleideter Blinder lehnte. Um das Senatshaus herum saßen allerlei Bettler und Krüppel, flehten die vorbeiziehenden Menschen um ein Almosen an oder setzten mitleidige Blicke auf. Der Blinde fiel keinem auf. Sie gingen an ihm vorüber, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Weil er keinen Hut und auch kein Tuch vor sich ausgebreitet hatte, warf ihm niemand etwas zu. Er ließ die Menschenmengen an sich vorbeiziehen. Hin und wieder schritt er in der Gegend umher, klopfte dabei den Boden mit einem Stock ab und kehrte dann wieder zu seinem Platz zurück. Dabei hätte er auffallen können. Man hätte bemerken können, dass er jede Woche zur selben Zeit an diesem Platz stand. Man hätte auch bemerken können, dass er sich ausgerechnet dort aufstellte, wo man den Markt am besten beobachten konnte. O ja , sagte er sich, sie sind sehr leicht zu täuschen. Es müsste nur einer von ihnen stehen bleiben und nachdenken. Sie würden sofort dahinterkommen. Aber das tun die Menschen nicht. Sie sehen nur, was auf ihrem Weg liegt und wo sie noch hinwollen – den nächsten Verkaufsstand oder einen Nachbarn, den sie treffen, oder den Nachhauseweg. Sie hören, wenn der Prediger da drüben ein Geschrei anstimmt und ihnen Angst einjagen will. Dann stehen sie da und schauen, als sei es eine Neuigkeit. Aber wenn etwas wirklich Merkwürdiges vorgeht, sind sie blind. Es ist schön, einer Herde Blinder zuschauen zu dürfen.
    Er beugte sich vor und lauschte in Richtung des kleinen Brunnens auf der Ostseite des Platzes. Man musste sich wenig anstrengen, um die schneidende Stimme des Boten vom Orden der Redlichkeit zu verstehen. Man erkannte die Boten an ihrem dunkelblauen Gewand, das mit grünen Schnüren umgürtet war, und am meist bräunlichen Gesicht mit der flachen Nase. Sie

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