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Der Schattensucher (German Edition)

Der Schattensucher (German Edition)

Titel: Der Schattensucher (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timo Braun
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1. Kapitel
    Alsuna, Jahr 304 nach Stadtgründung
    Er zog seinen Fuß ein Stück nach oben, sonst wäre er nun wohl tot gewesen. Der Lichtkegel der Laterne hätte seinen Fuß erfasst, schnell wäre der Wächter stehen geblieben, hätte nach oben geschaut, die eng geschnürten Lederriemen an den Füßen, das dunkelgraue Gewand und den roten Edelstein an seinem Gürtel erkannt und gerufen: »Da ist einer!« Er hätte versuchen können, aus seiner Position zu entkommen, wäre aber zu langsam gewesen, eine leicht zu treffende Zielscheibe vor dem Nachthimmel. Ein Armbrustpfeil hätte ihn vermutlich in den Hals getroffen oder ins Bein und er wäre abgestürzt.
    Doch er lebte.
    Der Wächter wanderte trällernd unter ihm hindurch, während der Lichtkegel seiner leicht schaukelnden Laterne nichts als kahle Steinwände erhellte. Das Mondlicht kam von der anderen Seite des Gebäudes, sodass Levins Körper gänzlich in Schatten gehüllt war. Die kühle Luft zog von unten durch sein Gewand und trocknete den Schweiß. Eine Weile würde er so durchhalten, eingespannt zwischen der Außenwand eines Wohnhauses und der Säule der Bibliothek. Drei Meter unter ihm war die Seitengasse, in die alle paar Sekunden eine der beiden Wachen auf ihrer Umrundung der Bibliothek einbog. Schießen können sie , sagte er sich. Sie können schießen, aber nicht sehen. Wie leicht würden sie es mit mir haben, wenn sie sehen könnten!
    Es war nicht schwer gewesen, bis hierher zu gelangen: die Hauptstraßen meiden wegen der Wachen, also in einem Nebenbezirk über eine Leiter ein flaches Dach besteigen, von einem Absatz zum nächsten Absatz springen, auf diese Weise die flachen Häuser in kurzer Zeit überqueren, ein steiles Giebeldach mithilfe eines Seils erklimmen, auf der Schattenseite hinüberschleichen, sich dann immer das nächsthöhere Haus hinaufarbeiten, schließlich am Nachbarhaus der Bibliothek über den Absatz spicken und die Wege der Wachen beobachten, dann irgendwann hinabgleiten, sich mit Armen und Beinen gegen die Wände pressen, bis zur Sprunghöhe hinabklettern und auf einen günstigen Moment warten.
    Bald war dieser Moment. Und es würde schwerer werden. Er musste von außen einsteigen, weil die Türen im Gebäude alle verschlossen waren. Die Steinsäulen waren zu breit zum Klettern. Doch die Fenster und Türen waren günstig: Sie besaßen breite Absätze und jede Menge prächtige Figuren, die Schutz und Halt boten. Alles hatte er in den letzten Tagen studiert: die Fassaden, die Pläne der Innenräume, die Laufwege der Wächter. Er wusste, wohin, wann und wie er sich zu bewegen hatte. Wichtig war nur, wachsam und geduldig zu sein.
    Er nutzte die Ruhe, um sich zu sammeln. Alsuna sah von hier aus wie ein Friedhof, wie eine Ansammlung von Steinblöcken und Holzbalken, von gepflasterten Straßen und armseligen Rinnsälen. Groß und prunkvoll zeigte sich die Stadt gerne bei Tag. Aber flach und hilflos lag sie jetzt vor der mondbeschienen Kulisse des Reimutgebirges, das man zwischen den Wölkchen der Kamine und den dürren Bäumen hindurch erkennen konnte. Sein ganzes Leben hatte Levin in ihren Mauern verbracht, hatte sich jahrelang knechten lassen von Menschen, die selbst Knechte der Zwänge in dieser Stadt waren. Bis heute wurde er das faltige Gesicht nicht los, das dem Mann gehörte, den er in seiner Kindheit »Vater« hatte nennen müssen. Levin vergaß nicht, wie es sich angehört hatte, wenn er durch die Wohnstube gebrüllt und ihn einen Lumpen geschimpft hatte. Ihm klangen noch die Worte im Ohr, wie der Vater ihm verboten hatte, sich jemals wieder hinter der Truhe zu verstecken: »Du hast zur Stelle zu sein, wenn ich dich brauche.«
    Levin vergaß auch nicht, wie er dem Vater vergeblich in den Rücken gefallen war, als dieser die Schwester geschlagen hatte, das Mädchen, mit dem er beim Räuberspielen in den Gassen die glücklichsten Stunden erlebt hatte. Im Gesicht des alten Bauern hatte er nicht seinen Erzeuger, sondern einen fremden Mann gesehen.
    Und damit sollte er recht behalten, wie er nach Jahren erfahren hatte. Man hatte ihn als Säugling aufgenommen, damals, als die Frau noch gelebt hatte. Er war kein Sohn, er war eine Waise, nie hatte er sich anders gefühlt. Je mehr ihm das bewusst geworden war, umso häufiger hatte er sich den Befehlen des falschen Vaters widersetzt.
    Schon bald war ihm klar geworden, dass er ein Leben führen konnte, wie er es selbst wollte, ein Leben in Freiheit, fern vom Ort der Demütigungen. Er musste

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