Der Schattensucher (German Edition)
ihm klar, dass ich genauso gut tagsüber hätte kommen können. Wieso sollte ich mich nachts in einen Lesesaal schleichen, der den ganzen Tag über geöffnet ist? Aber wenn sie nervös sind, so wie dieser hier, dann denken sie nicht weiter nach. Sie halten sich bereits für schlau, wenn sie nicht im ersten Moment wild auf mich losstürmen. Noch eine kleine Weile wird er glauben, dass er ein besonders kluger Wächter ist.
Irgendwann blieb der Wächter stehen. Er befand sich in einer engen Reihe zwischen zwei Regalen, von wo aus er den Tisch im Blick behalten konnte, ohne von dort gesehen zu werden. Es war der beste Ort, dem vermeintlichen Eindringling aufzulauern, wenn dieser zum Tisch zurückkehrte. Es war der Ort, wo Levin ihn erwartet hatte – direkt vor dem Regal, auf dem er selbst lag. Eine Weile würde der Mann nervös abwarten und immer noch glauben, dass er das Überraschungsmoment auf seiner Seite hatte. Er würde sich vornehmen, den Eindringling rücklings zu überwältigen, mitten im Licht der Kerze. Vermutlich ging er diesen Moment gerade in Gedanken durch, während er im Schatten wartete. Was er nicht bedachte, war, dass es einen noch tieferen Schatten gab. Und in diesem lag Levin, schaute zu dem Wächter hinab und wusste, dass gleich etwas ganz anderes passieren würde.
Er ging vorsichtig in die Hocke. Zuvor hatte er seinen Beinriemen festgezurrt, damit der Mantel nicht zu sehr flatterte, hatte sein Messer gezogen, sich noch einmal seinen Laufweg genau ausgespäht, unentwegt nach unten gesehen, wo der Wächter sich mit dem Rücken gegen das Regal presste und glaubte, er hätte den ganzen Raum im Blick.
Nun denn , dachte Levin.
Er fixierte den Schlüsselbund am Gürtel des Wächters, erhob mit der rechten Hand sein Messer, richtete sich auf, sprang vom Regal, ließ das Messer sausen, als er landete und zerschnitt so den Ledergürtel des Wächters. Mit der anderen Hand packte er den Schlüsselbund, riss ihn an sich und rannte davon, ehe der Wächter wusste, wie ihm geschah. Er kannte seinen Weg. Ohne nachzudenken durchquerte er Reihen von Büchern, umrundete ein Stehpult und rannte auf die Tür zu, durch die er hereingekommen war. Als er merkte, dass der Wächter die Verfolgung aufgenommen hatte, war er bereits an der Tür, schlüpfte hinaus und schlug sie zu. Mit zittrigen Händen nahm er den Schlüsselbund, probierte den ersten, vergeblich, den zweiten, vergeblich, den dritten, den vierten … er hörte die Schritte und Rufe des Wächters immer deutlicher … den fünften, er schien zu passen, passte aber nicht, den sechsten, den siebten … »Jetzt hab ich Euch!« … den achten … er passte. Levin drehte zweimal um, als etwas Schweres gegen die Tür krachte und die Klinke hinuntergedrückt wurde. Die Tür regte sich nicht.
Mit triumphierendem Keuchen lehnte er sich mit dem Rücken an die Tür.
»He! Ihr da! Macht sofort die Tür auf! Macht auf, oder es wird Euch teuer zu stehen kommen!« Levin ignorierte die Rufe und das Trommeln der Fäuste auf der anderen Seite. Er musste kurz durchatmen. Dann richtete er sich wieder auf. Es reizte ihn nicht, auf die kindlichen Drohungen des Wächters eine spöttische Antwort zu geben. Er hatte anderes zu tun. Ruhig schritt er den Gang entlang und die nicht enden wollenden Rufe und Schläge des Eingesperrten wurden immer leiser.
Die Treppe im Gang führte ihn ins dritte Stockwerk. Das Klirren des Schlüsselbundes klang angenehm in seinen Ohren. Kurz darauf betrat er den verbotenen Lesesaal, wo er sich eine Lampe anzündete und durch die langen Buchreihen ging. Bei keinem der Bücher verweilte er, keines der alten Manuskripte interessierte ihn, die sich turmhoch links und rechts von ihm stapelten. Er brauchte nur ein Buch und sobald er es hätte, wären seine Gedanken auch schon am nächsten Ort.
Er fand es ganz oben in einem Wandregal. Es lehnte zwischen spröden Papierbogen, die zu Boden segelten, als Levin das Buch herauszog. Kurz warf er einen Blick auf den Titel, sah sich die Farbe, das Material an und steckte es sofort in seine Tasche. Die Papierbogen hob er auf und stellte sie so an ihren Platz zurück, dass man die Lücke nicht erkennen konnte. Als er den Lesesaal verlassen hatte, schloss er ab und kehrte ins zweite Stockwerk zurück. Er kletterte durch das Fenster, zu dem er hereingekommen war. Den Schlüsselbund legte er auf den Absatz. Vielleicht würde der Rabe wiederkommen und ihn forttragen. Dann holte er sein Seil hervor.
Er hatte das Buch.
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